Bilder aus dem Holocaust

Bilder aus dem Holocaust

Im Sinne einer Erinnerungskultur 4.0 beziehen Projekte im Förderschwerpunkt „Bilden in digitalen Lernräumen“ die Auswirkungen des digitalen Wandels auf die historisch-politische Bildung zum NS-Unrecht ein und entwickeln exemplarisch neue Erinnerungspraktiken. Über die Herausforderungen dabei und die Möglichkeiten, ihnen zu begegnen handelt der folgende Debattenbeitrag.

Eine Großzahl der Bilder, die aus der Zeit des Holocausts überliefert sind, zeigen Personen aus der Täter:innenperspektive. Aus heutiger Sicht werfen sie ethische Fragen auf: Sollten Fotografien, die in rassistischer, antisemitischer oder frauenfeindlicher Absicht entstanden sind, überhaupt noch gezeigt werden und – falls ja – wie und in welchem Rahmen? Wird in der Quelle nur das Bild oder auch der Blick thematisiert? Wie werden solche Fotos in Ausstellungen präsentiert, und was geschieht dabei mit uns als Zuschauenden? Aus zwei Perspektiven gehen Expert:innen in einem Debattenbeitrag diesen Fragen nach: Das Team des Projekts #LastSeen, Dr. Alina Bothe, Dr. Christoph Kreutzmüller und Katharina Menschick, bespricht im Kontext des entstandenen Bildatlas Arbeitsergebnisse. Jonathan Matthews berichtet von seinen Erfahrungen als Leiter des Fotoarchivs der Gedenkstätte Yad Vashem.

Von Dr. Alina Bothe, Dr. Christoph Kreutzmüller und Katharina Menschick:

Ein harmloses Schwarz-Weiß-Foto? Vier Menschen stehen am Rande eines Platzes vor einem Gebäude, das sich bei näherem Hinsehen als Bahnhof entpuppt. Sie tragen leichtes Gepäck und schauen den Fotografen direkt an. Hinter ihnen gehen Passant:innen, darunter zwei Soldaten. So weit, so gewöhnlich. In Zeiten des Krieges bevölkerten Soldaten auf Heimaturlaub die Züge und Bahnhöfe des Deutschen Reichs.

Die Sterne, die die Menschen im Vordergrund an ihrer Kleidung tragen müssen, zeigen allerdings, dass es sich keineswegs um ein harmloses Abschiedsfoto aus familiärem Kontext handelt. Das Bild zeigt eine Deportation. Es stammt aus einer vierteiligen Serie, die Hanns Töpfer für die Kriegschronik seiner Heimatstadt Weiden angelegt hat. Beschriftet ist es mit dem knappen Satz „Abgang der letzten Juden aus Weiden und Umgebung am 3. April 1942“. Die auf dem Bild zu sehenden Menschen wurden über Regensburg nach Piaski deportiert und dort ermordet. Im Zuge der Recherchen für das in seiner ersten Phase in der Bildungsagenda NS-Unrecht geförderte Projekt #LastSeen haben wir das Foto in den von uns erstellten Bildatlas aufgenommen, kontextualisiert und annotiert.

Vor ihrer Ermordung versagte das NS-Regime Jüdinnen:Juden auch das Recht am eigenen Bild. Die Nationalsozialisten machten die Verfolgten zu rechtlosen Objekten der internen Dokumentationen, Chroniken und Leistungsnachweise. Die Deportierten wurden – auch wenn das vielleicht, wie in diesem Falle, nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist – gegen ihren Willen fotografiert. Danach wurden sie vor den Augen ihrer Nachbar:innen verschleppt und oft direkt bei Ankunft in Ghettos, Lagern oder an Erschießungsgruben ermordet.

Dürfen wir solche Fotos heute zeigen? Auch wenn wir mit dem Ziel angetreten sind, ebensolche Fotos in einem digitalen Bildatlas zu sammeln und zu zeigen, haben wir uns über die Frage viele Gedanken gemacht – und mit zahlreichen Fachkolleg:innen ausgetauscht. Wir halten es für wichtig, diese Bilder zu zeigen. Sie sind Beweise dafür, dass die Deportationen oft mitten am Tag und vor den Augen zahlreicher Zuschauer:innen stattgefunden haben. Gleichzeitig sind sie in vielen Fällen die letzten Fotografien, die die deportierten Menschen noch am Leben zeigen. Einige der Bilder wurden von Überlebenden und Familienmitgliedern der Ermordeten später gefunden und an die Archive, durch die sie uns heute zugänglich sind, übergeben.

Die zentrale Frage ist, wie diese Fotografien gezeigt werden
Uns ging es darum, eine Form der Darstellung zu finden, aus der sich ein kritischer Blick auf die Bilder und ihre Entstehung ergibt. So erscheint jedes Foto ausführlich kontextualisiert und mit Markierungen, über die weitere Informationen aufgerufen werden können. Ein Fokus liegt dabei auf den Namen und Biografien der verfolgten Menschen. So erfahren die Betrachter:innen der Fotos aus Weiden im Bildatlas etwa, dass im Vordergrund Willy „Otto“ und Rosa Hausmann und deren Kinder Hermann und Wilhelm zu sehen sind. Aber auch die Täter:innen und Zuschauenden, die auf vielen der Bilder erkennbar sind, werden, falls bekannt, identifiziert.

Es sind Bilder, die die strukturelle Gewalt der Verfolgung zeigen, indem sie kaum sichtbare Gewalt zeigen.

Deportationsfotos aus dem Reichsgebiet sind oftmals keine „Ikonen der Vernichtung“, sondern Bilder, deren Gewaltsamkeit erst offengelegt werden muss.

Mit dem Wissen um die Geschichte der Familie Hausmann ist es eben kein harmloses Bild mehr, sondern ein Bild der Vernichtung, das man zeigen und sehen muss. Es zeigt eine Tat, die nicht weggeht, in dem sie nicht gezeigt wird. Aber: Wo liegen die Grenzen? Reproduzieren wir Bilder, die bestimmte Entwürdigungen der Verfolgten zeigen, die antisemitische Motiviken enthalten? Ja, auch das tun wir, jeweils mit einer entsprechenden Kontextualisierung. Dabei ist über die digitalen Möglichkeiten des Zeigens nachzudenken: Gibt es Formen der Darstellung, die den Fotografien als historischen Quellen der Shoah und des Porajmos entsprechen und dabei gleichzeitig den dehumanisierenden Täter:innenblick auf die Verfolgten aufbrechen?

Die im Bildatlas #LastSeen gezeigte Sammlung der Fotografien von NS-Deportationen ist in vielfacher Hinsicht unvollständig. Den Deportationen ging ein jahrelanger Prozess der Verfolgung voraus, der auf den Fotos unsichtbar bleibt. Nur wenige zeigen die Perspektiven der Betroffenen. Auch sind nur von einem Bruchteil der Verschleppungen aus dem Deutschen Reich Bilder überliefert. Textkacheln auf der Startseite des Bildatlas sollen diese Lücken sichtbar machen.

Wir sind uns bewusst, dass die Gestaltung des Bildatlas keine abschließenden Antworten auf die Frage nach einer ethisch angemessenen Darstellung der (verdeckt) gewaltvollen Fotografien geben kann. Diese Frage muss immer wieder neu gestellt und auch von den Betrachter:innen mitbeantwortet werden. Dabei geht es um genaues Hinsehen, Reflektieren, Verstehen und Erinnern. Was bedeuten diese Bilder – historisch, aber auch im Hier und Jetzt? Eine Ethik des Zeigens ist stets eng mit einer Ethik des Hinsehens verbunden.

#LastSeen Bildatlas

Von Jonathan Matthews:

Aufgrund von Anfragen der Öffentlichkeit wurde die Ausstellung von zwei Fotos im Museum der Gedenkstätte infrage gestellt: die Entkleidung von Frauen vor ihrer Erschießung im Dezember 1941 in Liepāja, Lettland, und eine verängstigte entkleidete Frau, die während des Lviv-Pogroms im Juli 1941 vor ihren Angreifern davonläuft. In den meisten Fällen stammen solche Zensuranfragen von religiösen Gruppen, die ihre religiöse Perspektive in der Darstellung nicht respektiert sehen. In den letzten Jahren kommen Anfragen jedoch immer häufiger von Frauenorganisationen, die anmahnen, dass eine Darstellung von Frauen nach sexueller Gewalt herabwürdigend für das Opfer ist. In der Gedenkstätte Yad Vashem löste dies eine lebhafte Debatte aus.

Für die Entfernung dieser Fotos sprach, dass die Darstellung von Frauen in einem solchen Kontext respektlos gegenüber ihnen selbst und ihren Familienangehörigen ist. Noch wichtiger ist, dass Opfer sexueller Gewalt oft eine öffentliche Berichterstattung über das Verbrechen vermeiden möchten. Die Argumente für die Präsentation der Fotos konzentrierten sich auf die Notwendigkeit, historische Beweise zu bewahren und zu zeigen, insbesondere in der ehemaligen Sowjetunion, wo Beweise für die NS-Verbrechen rar sind. Holocaust-Opfer sprachen sich aus diesem Grund in der Vergangenheit oft für eine Darstellung aus.

In den Fotoarchiven von Yad Vashem kommt es selten vor, dass Fotos aus ethischen Gründen zensiert werden.

In zwei Fällen wurde entschieden, Bilder, die auf der Website erscheinen sollten, zu zensieren: 1) außergewöhnlich grausame Bilder von Körperteilen und 2) ein Album, das Soldaten zeigt, die als eine Gruppe eine Frau vergewaltigen und ermorden.

Im Gegensatz zu diesen Fällen gehören die bereits genannten Fotografien zu den bekanntesten und wichtigsten Dokumenten des Holocausts und sind in vielen Informationsmaterialien sowohl online als auch gedruckt vorhanden. Beide Seiten – jene für und jene gegen eine Darstellung – versuchen hierbei, die Perspektive eines Opfers einzunehmen, das nicht mehr für sich selbst sprechen kann. Vielleicht liegt hier der große Fehler: Es ist aus heutiger Perspektive nicht möglich, ein Opfer objektiv zu vertreten. Bei der Zensur von Material geht es in der Regel mehr um die Werte und Ideologien einer bestehenden Generation als um eine unbestreitbare philosophische Ethik. Das könnte damit zusammenhängen, dass wir im 21. Jahrhundert manche Bilder nicht mehr so ertragen können, wie es noch vor ein oder zwei Generationen der Fall war.

Aber auch diese Annahme kann infrage gestellt werden. Ein bekannter Aktivist für das Gedenken an das Massaker von Srebrenica plädierte vor Kurzem bei seinem Besuch in Yad Vashem dafür, die Bilder aufzubewahren: Die Opfer in Bosnien könnten so in ihrem Wunsch unterstützt werden, ihre Geschichte sichtbarer zu machen. Dies deutet darauf hin, dass die Generationenfrage auch auf einer Distanz zum Geschehen beruht und nicht nur auf ethischen Gegenwartsdiskursen. Je jünger die Generation ist, desto mehr entwickelt sie eine Sensibilität für den respektvollen Umgang mit dem Opfer.

Eine wichtige Frage sollten wir bei einer solchen Debatte nicht aus den Augen verlieren: Wo kann eine Grenze sinnvoll und individuell gezogen werden? Bei einer grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen eine Darstellung besteht immer die Gefahr, dass Ereignisse wie der Holocaust ohne den vielleicht entscheidendsten Aspekt dargestellt werden – nämlich als eine Geschichte von Massenmord, Gewalt und auch Vergewaltigungen. Dieses Gleichgewicht findet wahrscheinlich jede Generation neu und für sich.