Seit mehr als 700 Jahren leben Rom:nja und Sinti:ze in Deutschland und Europa. Sie werden angefeindet, verleumdet, kriminalisiert, ausgegrenzt, vertrieben und ermordet. Unter Vorwänden und aufgrund von Vorurteilen werden ihnen Rechte vorenthalten und die Teilhabe an Arbeit, Bildung, Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung erschwert und verweigert.
Wie viele Sinti:ze und Rom:nja aktuell in Deutschland leben, ist unklar. Schätzungen zufolge sind es zwischen 100.000 und 250.000 Menschen. Etwa 60.000 Sinti:ze und 10.000 Rom:nja haben einen deutschen Pass. Seit 1998 sind sie hierzulande als nationale Minderheit anerkannt.
Doch wie unterscheiden sich Sinti:ze und Rom:nja? Als Sinti:ze gelten Angehörige der Minderheit, die sich seit dem Mittelalter vorwiegend in West- und Mitteleuropa angesiedelt haben, während Rom:nja meist in Ost- und Südosteuropa beheimatet waren. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird „Rom:nja“ häufig als Name für die gesamte Minderheit verwendet, obwohl diese eine sehr heterogene Gruppe darstellen und sich u.a. durch verschiedene Sprachen oder Religionen unterscheiden.
Laut einer aktuellen EVZ-geförderten Studie (RomnoKher, 2021) bezeichneten sich 41,2 Prozent der befragten Minderheit selbst als „Sinti:ze“, 22,9 Prozent als „Rom:nja“, 2,5 Prozent verwendeten die Doppelform „Sinti:ze und Rom:nja“, während 9,2 Prozent eine solche Selbstbezeichnung ablehnten.
Antiziganismus hat eine lange Tradition in Europa und ist nicht erst ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Der Begriff, der analog zu Antisemitismus verwendet wird, meint eine „spezifische Form des Rassismus, die sich seit Jahrhunderten gegen Sinti:ze und Rom:nja richtet“ (so die Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance – IHRA).
Es muss ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass der Antiziganismus unsere europäischen Werte, unsere Prinzipien von Demokratie und Rechtstaatlichkeit radikal in Frage stellt. Deshalb muss eine Ächtung auch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe angesehen werden. Eine verbindliche Arbeitsdefinition Antiziganismus ist dafür ein sehr gutes Werkzeug.
Allerdings ist der Begriff umstritten, weil er eine abwertende Fremdbezeichnung, das Z-Wort, beinhaltet, mit der Sinti:ze und Rom:nja bis heute stigmatisiert werden. Trotzdem verwenden einige Sinti:ze- und Rom:nja-Organisationen „Antiziganismus“, um die darin enthaltenen rassistischen Zuschreibungen sichtbar zu machen.
Die über viele Jahrhunderte erlittene Diskriminierung und Verfolgung der Rom:nja und Sinti:ze fand ihren Höhepunkt unter der Herrschaft der vom `Rassen´-Wahn getriebenen Nationalsozialisten. Sie deportierten Menschen in Ghettos und Konzentrationslager, machten sie zu Arbeitssklav:innen, missbrauchten sie für Menschenversuche und ermordeten sie.
Wie viele Menschen dem Völkermord an den europäischen Sinti:ze und Rom:nja zum Opfer fielen, liegt im Dunkeln. Schätzungen gehen von bis zu 500.000 Ermordeten aus.
Maria Kopylenko aus Lviv verlor den Großteil der Familie während des Genozids an Roma.
© Luigi Toscano
Auch nach Ende der NS-Herrschaft wurden Sinti:ze und Rom:nja stigmatisiert, entrechtet und das ihnen zugefügte Leid (teils als „selbstverschuldet“ diffamiert) abgesprochen. Die in der Nachkriegszeit vielfach von ehemaligen Nationalsozialisten dominierten Behörden (und ein Großteil der Gesellschaft) leugneten, dass Rom:nja und Sinti:ze Opfer des Völkermordes waren. Es kam zu einer zweiten Verfolgung nach 1945, die unter anderem dazu führte, dass viele Überlebende um eine materielle Entschädigung betrogen wurden. Erst im Jahr 1982 erfolgte die offizielle Anerkennung des Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Weitere 30 Jahre vergingen, bis das „Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas“ am 24. Oktober 2012 durch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel eingeweiht wurde.
Das ändert jedoch nichts daran, dass weite Teile der Bevölkerung immer noch vorurteilsbeladen und rassistisch gegenüber Sinti:ze und Rom:nja eingestellt sind. So bekannten sich laut Leipziger Autoritarismusstudie von 2018 knapp 55 Prozent der Befragten dazu, ein Problem damit zu haben, wenn sich Sinti:ze und Rom:nja in ihrer Gegend aufhielten.
Wie sehr diese negativen Einstellungen den Lebensalltag von Sinti:ze und Rom:nja belasten, spiegelt der von der Unabhängigen Kommission Antiziganismus im Juni 2021 vorgelegte Bericht "Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation" wider. Sinti:ze und Rom:nja-Organisationen sowie Privatpersonen berichten darin über einen ungleichen Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeit und gesundheitlicher Versorgung sowie Diskriminierung, Marginalisierung, Kriminalisierung und mangelnden Schutz durch staatliche Institutionen und Justiz.
Dass dieser Befund auch auf den Bildungsbereich zutrifft, belegt die von der Stiftung EVZ geförderte RomnoKher-Studie. Dort heißt es: „Dass gerade auch Unterricht und Pausen trotz vorgeschriebener pädagogischer Aufsicht so hohe Diskriminierungsraten aufweisen, ist alarmierend und besonders erklärungsbedürftig. Lehrkräften und Schulen fehlt es offenbar an effektiven und handhabbaren Konzepten und Methoden, antiziganistischer Beschimpfung, Beleidigung und Gewalt entschieden und nachhaltig zu begegnen.“
Auch die Medien – so der Bericht der Antiziganismus-Kommission – würden entscheidend zu den Vorurteilen gegenüber Rom:nja und Sinti:ze beitragen. Vor allem seit Beginn der 2010er-Jahre – seit der verstärkten Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien – würden demnach antiziganistische Narrative wie Vorwürfe zu Asylmissbrauch und Betrugsdelikten durch die Medien reproduziert und gestärkt.
Mit sechs zentralen Forderungen skizziert die Antiziganismus-Kommission, wie der Rassismus bekämpft werden kann. Die Stiftung EVZ unterstützt u.a. die Forderung nach mehr Partizipation für Sinti:ze und Rom:nja in Medien, Politik, Wissenschaft und Verwaltung.
„Antiziganismus zu bekämpfen ist Aufgabe der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Um die Grundrechte von Rom:nja und Sinti:ze zu stärken, in Deutschland aber auch Mittel- und Osteuropa, braucht es Förderungen für die Selbstorganisationen von Rom:nja und Sinti:ze selbst. Mit Projekten für Inklusion, Partizipation und Bildungsteilhabe ist die Stiftung EVZ hier eine entscheidende Partnerin“ – so die ehemalige EVZ-Vorständin Petra Follmar-Otto.
Im Cluster Handeln gegen Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus engagiert sich die Stiftung EVZ in Deutschland und Mittel- und Osteuropa gegen Antiziganismus und fördert Selbstorganisationen, die gemeinsam mit der Mehrheitsgesellschaft gegen Antiziganismus eintreten. Im Cluster Handeln gemeinsam mit Selbstorganisationen werden Romani-Selbstorganisationen gestärkt, die sich für mehr Teilhabe von Rom:nja und Sinti:ze in Deutschland, für soziale Gerechtigkeit und gegen Antiziganismus einsetzen. Im Programm Latscho Diwes fördert die Stiftung Selbstorganisationen, die sich in der Ukraine und Moldau für Überlebende der NS-Verfolgung, für mehr Teilhabe der Minderheit, den Zugang zu Rechten und gegen Antiziganismus einsetzen.
Samudaripen und Porajmos sind beides Begriffe für den NS-Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja, die aus dem Romanes, der Sprache der Sinti:ze und Rom:nja, gebildet wurden.
Der Begriff Porajmos wurde in den 1990er Jahren vom Roma-Aktivsten und Forscher Ian Hancock geprägt und kann mit „Verschlingen“ übersetzt werden. Auch wenn der Begriff sehr populär geworden ist, wird er aufgrund seiner Konnotationen im Romanes in den Communities teilweise abgelehnt.
Samudaripen wird schon seit den 1970er Jahren zur Bezeichnung des NS-Völkermordes an den Sinti:ze und Rom:nja verwendet. Der Begriff kann in etwa mit „vollständiger Mord“ übersetzt werden. Der Begriff ist in seiner Bedeutung eindeutiger, weniger pathetisch und in den Communitys der Sinti:ze und Rom:nja weitgehend akzeptiert, weshalb auch die Stiftung diesen Begriff verwendet.
Neben Samudaripen und Porajmos wurden auch andere Begriffe als alternative Bezeichnungen vorgeschlagen, die aber wesentlich seltener verwendet werden, wie z.B. Berša Bibahtale (Romanes: die unglücklichen Jahre) und Kali Traš (Romanes: schwarze Angst).
Die Stiftung EVZ verwendet in ihren Texten die unseres Erachtens nach neutralste Formulierung „NS-Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja“.