Das NS-Regime baute eines der gewaltigsten Zwangsarbeitssysteme der Geschichte auf. Etwa 26 Millionen Menschen wurden im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten zum Arbeitseinsatz gezwungen. Lange zählten sie zu den ,vergessenen’ Opfern des Nationalsozialismus – bis die Entschädigungsdebatte Ende der 1990er Jahre ihre Geschichte in die Öffentlichkeit trug.
Zwangsarbeit war während des Zweiten Weltkrieges überall sichtbar. Betroffene mussten unter unmenschlichen Bedingungen auf Baustellen, in Betrieben und Bergwerken, in der Industrie, in Arbeits- und Konzentrationslagern Schwerstarbeit leisten – und so ausgerechnet für jenes Land die Kriegsproduktion aufrechterhalten, das sie ausbeutete und vernichtete. Aber auch auf Bauernhöfen, in Kirchengemeinden und Privathaushalten wurden Zwangsarbeiter:innen eingesetzt.
Die Auswirkungen der NS-Zwangsarbeit sind bis heute präsent: In den (Familien-)Biografien ehemaliger Zwangsarbeiter:innen, den unterschiedlichen europäischen Erinnerungskulturen und nicht zuletzt auf zwischenstaatlicher Ebene.
Das digitale Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939-1945“ definiert Zwangsarbeit im Nationalsozialismus als „die Verschleppung und Ausbeutung von mehr als 13 Millionen ausländischen KZ-Häftlingen, Kriegsgefangenen und ‚zivilen‘ Arbeitskräften in Deutschland. Zwangsarbeit gab es auch in Ghettos, Arbeitserziehungslagern und anderen Lagern im gesamten besetzten Europa und betraf insgesamt etwa 26 Millionen Menschen. Daneben herrschte in vielen besetzten Ländern ein allgemeiner Arbeitszwang für die Zivilbevölkerung. Davon abzugrenzen sind die Arbeitspflichten für die deutsche Bevölkerung (Reichsarbeitsdienst, Dienstverpflichtung, Landjahr), die unter völlig anderen Bedingungen stattfanden.“
Innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion wird häufig zwischen ausländischen Zivilarbeiter:innen, Kriegsgefangenen und Häftlingen unterschieden.
Das NS-Zwangsarbeitssystem erfüllte nicht nur einen wirtschaftlichen Zweck. Es war zugleich Instrument zur Verfolgung, Ausgrenzung und Unterdrückung gerade jener Gruppen, die von den Nationalsozialisten als ,minderwertig’ betrachtet wurden. Kurz: Die NS-Zwangsarbeit war Tat gewordene Rassenideologie.
Mit steigender Radikalisierung wurde Zwangsarbeit zur physischen Vernichtung eingesetzt: vor allem KZ-Häftlinge, darunter viele Juden:Jüdinnen, Sinti:ze und Rom:nja sowie sowjetische Kriegsgefangene und Zivilarbeiter:innen (als „Ostarbeiter:innen“ bezeichnet), starben am häufigsten beim Arbeitseinsatz.
Nach 1945 lehnten die deutsche Regierung und Profiteur:innen des Zwangsarbeitssystems Entschädigungszahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen ab.
Das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 schloss im Ausland lebende sowie nicht rassistisch oder politisch Verfolgte weitgehend von Leistungen aus. Auch die sogenannten Globalabkommen – Zahlungen der BRD an einzelne Staaten – sahen keine individuellen Entschädigungsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen vor.
Auftrieb erhielten die Forderungen nach Entschädigungszahlungen mit der erfolgreichen Klage des ehemaligen Zwangsarbeiters Norbert Wollheim gegen die I.G. Farbenindustrie AG.
Infolgedessen einigten sich Wollheim, die Claims Conference und das Unternehmen auf eine Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter:innen in Höhe von 30 Millionen Deutsche Mark für jüdische KZ-Häftlinge, die für die IG-Farben Zwangsarbeit leisten mussten – und schufen einen Musterfall für weitere Klagen.
Es sollten dennoch Jahrzehnte vergehen, bis sich die Bundesrepublik und deutsche Gesellschaft zu ihrer Verantwortung bekennen würden. Nach zunächst erfolglosen politischen Initiativen erzwang der anhaltende Druck in und aus den Vereinigten Staaten von Amerika Ende der 1990er Jahre die ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. 1998 einigten sich die Fraktionen des Bundestags darauf, eine Stiftung zur Entschädigung von Zwangsarbeit unter finanzieller Beteiligung der deutschen Wirtschaft einzurichten.
Das zentrale Ziel bei der Gründung der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft im Jahr 2000 war die Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter:innen und andere Opfer des nationalsozialistischen Unrechts. Diese Zahlungen wurden 2007 offiziell abgeschlossen. 1,66 Millionen Menschen in fast 100 Ländern erhielten Zahlungen in Höhe von insgesamt 4,4 Milliarden Euro.
Das Thema Zwangsarbeit bleibt auch nach Abschluss der Zahlungen weiter oben auf der Agenda der Stiftung EVZ. Das spiegelt sich in der 2021 vom Bundesministerium der Finanzen initiierten Bildungsagenda NS-Unrecht wider, die mit ihrer Förderung gerade jene Projekte unterstützen soll, die „die Schicksale der verfolgten Menschen und Gruppen sichtbar machen, mit einem besonderen Fokus auf diejenigen, die bisher weniger öffentliche Aufmerksamkeit erhalten haben.“
Wie wichtig das ist, zeigt auch die Studie MEMO Deutschland - Multidimensionaler Erinnerungsmonitor der Stiftung EVZ: Im Durchschnitt schätzen die Befragten, dass nur etwa vier Millionen Menschen während der gesamten Zeit des Nationalsozialismus im damaligen „deutschen Reich“ als Zwangsarbeiter:innen arbeiteten.
Das neu erschienene Kursangebot vermittelt in vier Modulen Grundwissen zur Geschichte der zivilen Zwangsarbeiter:innen aus der ehemaligen Sowjetunion. Was musste die Ingenieurin Sinaida Baschlai aus Charkiw nach ihrer Verschleppung als Zwangsarbeiterin in NS-Deutschland erleben? Und was passierte mit den Menschen, nachdem der Krieg vorbei war? Diesen und weiteren Fragen geht das Lernangebot nach. Das Vertiefungsmodul bietet darüber hinaus Möglichkeiten, sich über Projekte und Materialien zum Thema zu informieren.
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