„Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist für mich etwas sehr Persönliches“

Am 1. September 2022 jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum 83. Mal. Wie gedenkt man im Nachbarland dieses Tages? Wie bewerten ihn Projektträger:innen der Stiftung EVZ in Polen, die in der historisch-politischen Bildungsarbeit aktiv sind? Ein Überblick.

Auf einer kleinen Halbinsel vor der Küste Danzigs erhebt sich in 23 Metern Höhe eine gigantische, in Stein gehauene Mahnung an das Leid, das hier am 1. September 1939 gegen 4.45 Uhr seinen Anfang nahm: Das Westerplatte-Denkmal (Pomnik Obrońców Wybrzeża) erinnert an die Verteidigung der gleichnamigen Halbinsel durch polnische Soldaten gegen die deutsche Wehrmacht. Es markiert zugleich den Beginn des Zweiten Weltkrieges, in dessen Verlauf mehr als 60 Millionen Menschen, darunter geschätzte fünf bis sechs Millionen polnische Bürger:innen, sterben sollten.

Wie wird heute in Polen eines derart katastrophalen Ereignisses gedacht? Drei Akteur:innen der historisch-politischen Bildungsarbeit berichten.

Fundacja Nomina Rosae Ogród Kultury Dawnej, Nowy Sącz

„Das Gedenken an den 1. September 1939 ist heute in Polen eine Art nationales, identitätsstiftendes Ritual, das vor allem auf politischer Ebene von der Regierung und Verwaltungen vor Ort organisiert wird“, erzählt Dr. Maria Molenda, Historikerin und Präsidentin der Stiftung Nomina Rosae Ogród Kultury Dawnej in Nowy Sącz. Die Stiftung im Südosten Polens hat sich der Verbreitung und Vertiefung historischen Wissens verschrieben und arbeitet aktuell an einer digitalen, interaktiven Karte zu Nowy Sącz unter deutscher Besatzung.

Für Maria Molenda sind Gedenktage wie der deutsche Überfall auf Polen oder der Warschauer Aufstand mit ihren Kindheitserinnerungen verknüpft, dem Klang von Sirenen, den Feierlichkeiten. Schon als 7-Jährige hat sie sich für den Zweiten Weltkrieg interessiert, Personen in ihrem Umfeld nach ihren Erinnerungen befragt. Eine Leidenschaft, die sie in ihrer Arbeit fortsetzt: Es sind vor allem die vergessenen und verdrängten Ereignisse, die sie lebendig halten möchte.

Geschichte als etwas Emotionales und Identitätsstiftendes

Auch in Nowy Sącz gibt es am 1. September Gedenkveranstaltungen, an denen sich ihre Stiftung aber nicht beteiligt. „Wir haben uns dafür entschieden, Gedenkveranstaltungen zu jenen Ereignissen zu organisieren, an die nicht erinnert wird: etwa zur Liquidation des Ghettos in Nowy Sącz oder der großen Exekution von 1941“, erzählt sie.

Dass Geschichte nie nur aus einer Abfolge historischer Ereignisse besteht, sondern etwas Emotionales und Identitätsstiftendes sein, weiß die Historikerin durch ihre eigene Arbeit. „Ich glaube, dass es Emotionen braucht, um sich mit Geschichte zu beschäftigen. Wir wollen mit unserer Arbeit dazu beitragen, diese zu entdecken, um so selbst sensibler zu werden und mit anderen Menschen zu sympathisieren.“ Nur, und das ist ihr wichtig, dürften Emotionen nicht missbraucht oder Ängste geschürt werden.

Obwohl Maria Molenda das Gedenken um den 1. September 1939 eher auf einer politischen Ebene verortet, erkennt sie aber eine gesellschaftliche Bedeutung in der jährlichen Erinnerungs-Choreografie: „Rituale sind für Menschen wichtig: Sie brauchen sie, um sich selbst darin wiederzufinden und eine Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu knüpfen.“

Maria Molenda über Emotionen in der historischen Auseinandersetzung

Maria Molenda über Emotionen in der historischen Auseinandersetzung

Dr. Maria Molenda, Historikerin und Präsidentin der Stiftung Nomina Rosae Ogród Kultury Dawnej in Nowy Sącz, setzt sich im Interview für die Bedeutung von Emotionen in der Auseinandersetzung mit Geschichte ein.

Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, Kreisau

Etwa 370 Kilometer weiter westlich liegt das Dorf Kreisau (Krzyżowa), wo die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung (Fundacja „Krzyżowa” dla Porozumienia Europejskiego) seit den 1990er Jahren als Begegnungs- und Erinnerungsstätte tätig ist.[1] Benannt ist sie nach dem Kreisauer Kreis, einer Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus. Wie wird an diesem geschichtsträchtigen Ort an den Beginn des Zweiten Weltkrieges erinnert? „Der 1. September 1939 ist ein Jahrestag, den wir wahrnehmen, aber zu dem wir keine speziellen jährlichen Veranstaltungen haben. Im Rahmen unserer Arbeit ist der Zweite Weltkrieg ein zentrales Thema, das eher kontinuierlich präsent und nicht an bestimmte Tage geknüpft ist“, erzählt Dominik Kretschmann, Leiter der Gedenkstätte der Stiftung Kreisau.

Chance und Risiko zugleich

In Gedenk- und Jahrestagen sieht er die Chance, Anstöße zum Nachdenken zu geben und Geschichte einem breiteren Kreis von Menschen in Erinnerung rufen. „1933, 1939, 1945 – für sehr viele, gerade jüngere Menschen ist das unglaublich weit weg. Da ist es gut, wenn es Impulse von landesweiter Wahrnehmung gibt.“ Aber: „Gleichzeitig besteht das Risiko eines leeren oder automatisierten Gedenkens.“ In Polen gibt es viele Gedenktage. Nur vier Wochen vor dem 1. September wird des Warschauer Aufstandes vom 1.  August 1944 gedacht. Wenn Gedenken aber zur jährlichen Routine werde, dann stelle sich die Frage, wieviel Aufmerksamkeit der jeweilige Tag noch bekomme, gibt der Gedenkstättenleiter zu bedenken.

Welche Bedeutung hat Geschichte noch im deutsch-polnischen Verhältnis? Für viele, vor allem jüngere Menschen sei das Thema zwar wenig präsent. Gleichzeitig werde es aber auf politischer Ebene thematisiert und sehr ausdrücklich erinnert. Viele Menschen in Polen glaubten, so Dominik Kretschmann, dass die Mehrheit der Deutschen keine Ahnung habe, was eigentlich zwischen 1939-45 in Polen passiert sei.

In diesem Jahr könnte das Gedenken um den 1. September 1939 eine weitere Dimension bekommen: „Gerade der Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine dürfte bei vielen Polen und Polinnen Assoziationen mit der eigenen Situation im Jahr 1939 geweckt haben: dass man alleingelassen ist und von einem auf dem Papier völlig übermächtigen Gegner angegriffen wird.“

Dominik Kretschmann über die Bedeutung von Gedenktagen

Dominik Kretschmann über die Bedeutung von Gedenktagen

Dominik Kretschmann, Leiter der Gedenkstätte Stiftung Kreisau, spricht im Telefoninterview über die Bedeutung historischer Gedenktage.

Humanity in Action Polska, Warschau

In der polnischen Hauptstadt Warschau hat Monika Mazur-Rafał, Vorstandsvorsitzende und Nationaldirektorin von Humanity in Action Poland, ihr Büro. Die Organisation plant zum ersten 1.  September – von Social Media-Posts abgesehen – keine eigenen Veranstaltungen. Auch Monika Mazur-Rafał spricht von einer Ritualisierung des 1. Septembers im öffentlichen Raum, auf lokaler und staatlicher Ebene, in Schulen und Gedenkstätten. „Ich habe den Eindruck, dass uns eine Ritualisierung des Gedenkens nicht weiterbringt. Sie führt dazu, dass Menschen sich distanzieren.“ Daher bestehe die Herausforderung für Geschichtslehrer:innen und Pädagog:innen nicht darin, historische Fakten und Zahlen zu vermitteln. Vielmehr sollten sie Wege finden, Menschen in die Erforschung von Geschichte und Geschichten einzubeziehen, um sie persönlicher zu machen, findet Monika Mazur-Rafał.

Denn neben offiziellen Gedenkveranstaltungen wird in Polen heute auch auf einer anderen, persönlicheren Ebene gedacht: „Die überwiegende Mehrheit der polnischen Familien hat während des Krieges ein Familienmitglied verloren. Innerhalb dieser privaten Räume wird die Erinnerung an sie bewahrt.“

Kriege folgen bestimmten Handlungsmustern

Tod und Trauma ziehen sich auch durch die Familienbiografie von Monika Mazur-Rafał: „Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist für mich etwas sehr Persönliches. Die Familie meiner Mutter wurde im Massaker von Wolhynien im Juli 1943 ermordet.“ Während des Kommunismus sei es weder erlaubt gewesen, über die Ereignisse zu sprechen, noch des Todes dieser Menschen zu gedenken. Bei ihrer Arbeit für Humanity in Action lernte sie, welchen Einfluss Traumata auf die zweite und dritte Generation haben.

 „Für mich ist es wichtig, dass junge Menschen verstehen, dass ein Krieg oder eine Reihe von Ereignissen kein alleinstehendes Phänomen sind. Kriege folgen bestimmten Handlungsmustern von Menschen“ – etwas, was man auch aktuell mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine beobachten müsse. „Wir sehen, dass es mit Propaganda beginnt“, mit einer Entmenschlichung des vermeintlichen Gegners, erzählt Monika Mazur-Rafał. 

Darum geht es auch in dem von der Stiftung EVZ geförderten Projekt „Break the Vicious Circle“: Schüler:innen sollen mithilfe einer App ein tiefergehendes Wissen um den Nationalsozialismus, Zweiten Weltkrieg und Holocaust bekommen und verstehen, wie es so weit kommen konnte.

Monika Mazur-Rafał über Muster in der Geschichte

Monika Mazur-Rafał über Muster in der Geschichte

Monika Mazur-Rafał, Vorstandsvorsitzende und Nationaldirektorin von Humanity in Action Poland, spricht im Telefoninterview über Muster in der Geschichte, die sich auch im russischen Angriffskrieg von 2022 zeigen.

Überblick: Der deutsche Überfall auf Polen und Beginn des Zweiten Weltkrieges

Der Überfall: 1. September 1939

Am 1. September 1939 gegen 4.45 Uhr begann die Wehrmacht ihren Angriff auf Polen mit dem Beschuss der Westerplatte. Vorausgegangen war die Behauptung, der Rundfunksender der Grenzstadt Gleiwitz (Gliwice) sei von polnischen Soldaten angegriffen worden – eine Lüge. Bereits ab März 1939 hatte die NS-Führung einen immer aggressiveren Kurs gegenüber Polen eingeschlagen und durch gezielte Propaganda anti-polnische Ressentiments innerhalb der deutschen Bevölkerung befeuert. Am Vormittag des 1. September 1939 verkündete Adolf Hitler im Reichstag: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ Mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen am 17. September war das Schicksal Polens besiegelt. Am 6. Oktober 1939 kapitulierten die polnischen Streitkräfte. [2]

Zahlen des Terrors

Die Wehrmacht führte den Krieg gegen Polen von Beginn an mit grausamer Härte. Allein bis zur Kapitulation am 6. Oktober starben Schätzungen zufolge 120.000 Soldaten, 917.000 gerieten in Kriegsgefangenschaft.[3] Während des gesamten Zweiten Weltkrieges ging der Terror gegen die polnische Bevölkerung mit unverminderter Härte weiter: Menschen wurden ermordet, als Zwangsarbeiter:innen verschleppt, ausgebeutet und schikaniert, polnische Kultur- und Wirtschaftsgüter vernichtet, Städte zerbombt. Bis zu 17 Prozent der Bevölkerung Polens – fünf bis sechs Millionen Menschen – starben aufgrund von Massenmord, Hunger und Seuchen zwischen 1939-45.[4]

Gedenken heute

Das unvorstellbare Leid des Zweiten Weltkrieges prägt bis heute das Selbstverständnis Polens und – in unterschiedlichen Ausprägungen – die deutsch-polnischen Beziehungen. In fast jeder Stadt gibt es Denkmäler und Informationstafeln zu Ereignissen des Zweiten Weltkrieges, polnische Familienbiografien sind gezeichnet von Tod und Zerstörung. Entsprechend finden jedes Jahr am 1. September Gedenkveranstaltungen, Kranzniederlegungen, Konzerte und TV-Ausstrahlungen anlässlich des deutschen Überfalls auf Polen statt. Der Tag reiht sich damit in eine ganze Reihe wichtiger Gedenktage zum Zweiten Weltkrieg in Polen ein: etwa dem Warschauer Aufstand am 1. August 1944 oder dem Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto am 19. April 1943.

                                                                                              

[1] https://www.krzyzowa.org.pl/de/o-fundacji-2/historia-fundacji-2#die-berliner-erklaerung

[2] https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/190237/vor-80-jahren-hitler-stalin-pakt/ und https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/ueberfall-auf-polen-1939.html

[3] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/ueberfall-auf-polen-1939.html

[4] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/kriegsverlauf/besatzungsregime-in-polen.html

Autorin: Maria Krell, freie Journalistin