Ein Gastkommentar von Dr. Katja Makhotina, Dozentin an der Universität Bonn

Ein Gastkommentar von Dr. Katja Makhotina, Dozentin an der Universität Bonn

Der Förderschwerpunkt Europa reflektiert und dokumentiert die europäische Dimension des NS-Unrechts. Länderübergreifende Projektverbünde tragen durch engagierte historisch-politische Bildungsarbeit zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses bei. Eine der Herausforderungen: In Osteuropa gibt es viele Orte nationalsozialistischer Verbrechen, die heute fast vergessen sind. Wie wird dort gedacht und wie können wir Leerstellen in der deutschen Erinnerungskultur schließen?

Zum 80. Jahrestag des Massakers von Chatyn – am 22. März 1943 tötete die deutsche Wehrmacht alle Bewohner:innen des sowjetbelarussischen Dorfes Chatyn durch Feuer – wurde in der dortigen Gedenkstätte ein neues Museum eröffnet. Das Ziel: die Besucher:innen nicht durch Informationstexte zu überlasten, sondern sie interaktiv in das Geschehen einzubeziehen, die Tragödie an sich spüren zu lassen. In der interaktiven Ausstellung erzählt ein kleines Mädchen, wie es in dem deutsch besetzten Gebiet in ein Waisenhaus verschleppt wurde, wie ihm Blut für die deutschen Soldaten abgenommen wurde, wie die psychischen und physischen Folgen dieser Zeit so gravierend waren, dass es später kinderlos blieb. Der Krieg habe ihm nicht nur seine Zukunft genommen, sondern auch die der ganzen belarussischen Nation, die hier ungeheure demografische Verluste erlitten hat. Dieser Krieg, so die Botschaft des Museums, war ein Genozid an der belarussischen Bevölkerung.

Das neue Museum in Chatyn ist nur ein Beispiel für die hohe Nachfrage nach Kriegserinnerung im postsowjetischen Raum. Die Besonderheit der erinnerungskulturellen Situation liegt im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine: Ein Nachfolgestaat der siegreichen Sowjetunion, die Russländische Föderation, hat einen anderen Nachfolgestaat, die Ukraine, angegriffen und führt – mit Unterstützung des anderen Nachbarstaats Belarus – Krieg gegen seine Menschen und seine Kultur und bezieht sich dabei auf das Erbe und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. In Russland, Belarus und der Ukraine wird das Gedenken an den deutsch-sowjetischen Teil des Zweiten Weltkriegs für tagespolitische Zwecke instrumentalisiert, dazu gehört zuerst und vor allem die Gleichsetzung der „Helden von damals“ mit den „Helden von heute“. Die gemeinsame Klammer der Erinnerungspolitik in diesem Gebiet liegt in der nationalen Selbstviktimisierung durch den Begriff „Genozid“ in Anwendung auf die Vergangenheit (Genozid an der sowjetischen Bevölkerung 1941–1945) und die Gegenwart (Krieg im Donbass vs. Russlands Verbrechen gegen Ukrainer:innen und ihre Kultur). Diese extreme Emotionalisierung des Kriegsgedenkens stellt Deutschland vor eine große Herausforderung:
Wie ist es möglich, der Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten zu gedenken, ohne auf die tagespolitischen Verdrehungen Rücksicht zu nehmen?

Sich dieser Herausforderung zu stellen, ist vor allem deswegen keine triviale Aufgabe, weil die Geschichte deutscher Kriegsgewalt im Osten weitestgehend unbekannt ist. Nimmt man Chatyn oder weitere verbrannte Dörfer in der besetzten Sowjetunion wie Pirčiupiai, Korjukivka oder Krasucha, sind diese Orte nach wie vor kein Gegenstand des öffentlichen Wissens. Die im Dezember 2021 durchgeführte Studie MEMO V der Stiftung EVZ zeigt, dass in den Umfragen die Kriegserinnerung nach wie vor westeuropäisch orientiert ist: Fast 75 Prozent nannten Frankreich als Land, das am stärksten mit dem Krieg in Zusammenhang gebracht wird. Die 2023 durchgeführte MEMO-Jugendstudie offenbart ähnliche Wissenslücken in Bezug auf den Krieg „im Osten“. Zum einen liegt dies in der Westorientierung deutscher Erinnerungspolitik nach dem Krieg begründet, zum anderen in der fortgesetzten Tradierung des Bildes vom „Feind im Osten“ durch die antikommunistische Gesinnung der alten Bundesrepublik, die nach der Wiedervereinigung auch für Ostdeutschland prägend werden sollte. Das langjährige Nicht-wissen-Wollen über die Taten der Kriegsgeneration und das Fehlen der Betroffenenperspektive in der Erinnerungskultur führen dazu, dass diese Länder bis heute nicht auf Deutschlands Erinnerungskarte sind.

So muss der Umgang mit den lange verschwiegenen Opfern vor allem drei Schritte beinhalten:

1) das Bewusstsein dafür, dass das Vorgehen der Wehrmachtssoldaten im Osten kein „normaler Krieg“ war, sondern mehrere Verbrechenskomplexe beinhaltete

2) die Anerkennung der Tatsache, dass die deutsche Öffentlichkeit viel zu wenig davon weiß – und dass sich das ändern muss

3) die Einsicht, dass man sich viel zu lange gegen dieses Wissen gesperrt hat bzw. heute immer noch das Nicht-wissen-Wollen über die NS-Gewalt „vor der Haustür“ auf der lokalen Ebene vorherrscht

Wie kann es gelingen? Meines Erachtens sollte die Form des Erinnerns stets auf individuelle Schicksale oder möglichst konkrete Orte (der Gewalt, des Leids, des Widerstands) bezogen sein. Diese Erinnerungsweise nimmt Menschen als Individuen in ihrem Leiden in den Blick und macht ihre schrecklichen Verlusterfahrungen sichtbar. Diese persönliche Dimension des Erinnerns eignet sich nicht dafür, in aggressive oder gar gewaltorientierte Narrative eingebaut zu werden. Solche Formen des Erinnerns, die Menschen in ihrem Kontext der Zeit, aber auch in ihrer universellen Menschlichkeit wahrnehmen, entziehen sich der Logik der „Erinnerungskriege“.
 

Im Projekt „Der Krieg und seine Opfer“ befasst sich dekoder mit den Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg in den nationalsozialistisch besetzten Gebieten der Sowjetunion.