stolpern

Schon länger beschäftigt sich die Schaubühne auf unterschiedlichen Ebenen mit dem gesellschaftlichen Rechtsruck. Die Spielzeit 2021/2022 widmet diesem wichtigen Thema einen Schwerpunkt: Mit einem theaterpädagogisch-künstlerisch-partizipativen Format in Kooperation mit dem Piccolo Kinder- und Jugendtheater Cottbus. Das theaterpädagogische Projekt versucht Verbindungslinien zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Ausgehend von Stolpersteinen, die in beiden Städten zu finden sind, wird auf der Bühne nicht nur über die gemeinsame Geschichte, sondern auch die gemeinsame Verantwortung verhandelt.

Begleitet wird die dabei entstehende Inszenierung von einem ausführlichen theaterpädagogischen Vermittlungsprogramm, das aus mehreren Workshops, einer Materialmappe und Publikumsgesprächen zusammengesetzt wird. Darüber hinaus plant die Schaubühne zwei unterschiedliche Diskursformate, die sich inhaltlich mit dem theaterpädagogischen Projekt verbinden lassen. So wird den zentralen Fragen nach der Erinnerung an Opfer des Naziregimes, dem Weiterleben rechtsextremer Ideologien und der gemeinsamen Verantwortung, diese in Zukunft zu überwinden, eine noch größere Sichtbarkeit und Plattform geboten. Um die verschiedenen Dimensionen der Auseinandersetzung mit rechten Tendenzen in der Gesellschaft – den historischen wie den gegenwärtigen – zu dokumentieren, werden die verschiedenen Perspektiven auf einem klar sichtbaren Projektreiter auf der Hauptwebsite der Schaubühne, die integraler und vermittelnder Bestandteil des Projektes sein wird, gebündelt und verknüpft.

Ein nachhaltiger Beitrag zur Erinnerungskultur

Während einerseits immer mehr Menschen traditionelle Lebenswege und -formen aufgeben, über neue Macht-, Ressourcen- und Privilegienverteilung gerungen wird und Fragen gesellschaftlicher Teilhabe unabhängig von Geschlecht, sozialer oder ethnischer Herkunft, sexueller oder religiöser Identität ins gesellschaftliche Zentrum rücken, kehren auf der anderen Seite überwunden geglaubte Denk- und Sprachmuster zurück, die in der Ideologie des Nationalsozialismus wurzeln und denen es unbedingt etwas entgegenzusetzen gilt. Rassistische Attentate, verbale und physische Attacken auf Politiker:innen und Presse, Hass und Hetze gegen Personengruppen, die schon in der Zeit des Nationalsozialismus zu den Opfern zählten, gehören seit einigen Jahren leider wieder zum Alltag in Deutschland. Woran liegt das? Ist unser Gedächtnis zu schwach? Verblassen allmählich die Erinnerungen an die Schrecken der Nazizeit oder führen neue gesellschaftliche Ängste zur altbekannten Reaktion? Mit ihren Projekten will die Schaubühne nachhaltig und fundiert zur öffentlichen Debatte beitragen.

Soziale Plattform gegen Hemmschwellen und Vorbehalte

Um vielfältige Milieus auf der Bühne repräsentieren zu können, wurde eine Gruppe Teilnehmender mit möglichst unterschiedlichem sozialem Background in die Besetzung eingebunden. In diesem Sinne versteht sich „stolpern“ als soziale Plattform, auf der Hemmschwellen und gegenseitige Vorbehalte verhandelt und bestenfalls abgebaut werden. Ein Raum, in dem der sogenannten Fragmentierung der Gesellschaft aktiv entgegengewirkt wird, indem sie zum Gegenstand einer kritischen Recherche gemacht wird. Die Diversität der Gruppe wird als ihre Stärke begriffen und ihre Differenzen bilden den Ausgangspunkt für die Grundfragen des Abends. 

Zum 30. Jubiläum der Stolpersteine

2022 hat die Initiative Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig 30-jähriges Jubiläum: Ein Projekt, das die Erinnerung an die Vertreibung und Vernichtung der Juden:Jüdinnen, der Sinti:ze und Rom:nja, der politisch Verfolgten, der Homosexuellen, der Zeugen Jehovas und der Euthanasieopfer im Nationalsozialismus lebendig hält.
Unzählige Stolpersteine sind in Berlin und in Cottbus zu finden. Was passiert nach dem Stolpern? Entweder man fängt sich wieder oder man fällt. Wie können wir mit dem Wissen um die Vergangenheit umgehen? Wie können wir es wachhalten? Was können wir einem gesellschaftlichen Rechtsruck entgegensetzen? Was sind junge Menschen, Erstwähler:innen bereit zu tun, um eine Welt zu gestalten, in der sie gern leben möchten? Heute und in Zukunft. Die Städte Cottbus und Berlin sind in der theaterpädagogischen Stückentwicklung „stolpern“ Ausgangspunkt einer theatralen Untersuchung, die Sinnbild einer Gesellschaft sind, die – wie in diversen Medien und zahlreichen soziologischen Untersuchungen häufig beschrieben – im Kontext eines politischen Rechtsrucks mehr und mehr zu fragmentieren droht. Die beiden Diskursformate analysieren aktuelle, neofaschistische Dynamiken und überprüfen sie auf ihre je besonderen historischen Vorläufer und sozialen Ursachen.

Gemeinsamer Probenprozess zwischen Cottbus und Berlin

In einem achtmonatigen Probenprozess setzen sich Jugendliche aus Cottbus und Berlin ausgehend von den Stolpersteinen gemeinsam mit den individuellen Schicksalen während der NS-Zeit verfolgter Personengruppen auseinander. Dabei werden unter anderem die Perspektiven der homosexuellen Opfer des NS Regimes beleuchtet sowie die Leidensgeschichte des sorbischen Volkes, dass sich vor allem in der Lausitz verortet. Dazu besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Sorbischen Institut e.V. aus Cottbus und dem Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg (LSVB). In verschiedenen Formaten – biografischen Familien-Recherchen, persönlichen Gesprächen mit Überlebenden, Recherchereisen in Form von Besuchen von Gedenkstätten sowie Theater-Workshops mit Vertreter:innen marginalisierter Gruppen – wird gemeinsam reflektiert, wie diese Personengruppen bis heute Ausgrenzung erfahren und sammeln über diese Erfahrungen Material für das Theaterstück. Zugleich setzten sich die Jugendlichen mit sich selbst und ihren eigenen Lebensrealitäten auseinander: Welche Vorurteile haben sie übereinander? Mit welchen Vorurteilen sehen sie sich aufgrund ihrer Herkunft konfrontiert? Und schließlich: In welcher Welt wollen sie leben? Was sind ihre Forderungen? Aneinander, aber auch an die Gesellschaft, in der sie leben? 

In „stolpern“ wird Jugendlichen aus Cottbus und Berlin eine gemeinsame Bühne zur Verfügung gestellt. Sie sprechen nicht übereinander, sondern miteinander. Sie konfrontieren sich mit gegenseitigen Klischees, subvertieren und dekonstruieren diese. Sie benutzen den Raum, der ihnen hier zur Verfügung gestellt wird, um ihre ganz eigenen Visionen einer Zukunft zu entwickeln, sie blicken zurück auf die Herkunft vieler dieser Klischees. Vor allem aber konfrontieren sie das Publikum mit seinen eigenen Vorurteilen: Immer wieder werden die Zuschauer:innen auf ihre Projektionen über die Herkunft, den sozialen Background und/oder die Sexualität der Jugendlichen zurückgeworfen. 

Das Piccolo Theater

Das Piccolo-Theater in Cottbus ist seit 1991 ein Theater für Kinder und Jugendliche, das als Privattheater von der Stadt Cottbus und dem Land Brandenburg unterstützt und derzeit von Reinhard Drogla geleitet wird. Als professionelles Repertoiretheater werden dort durchschnittlich 13 Stücken gezeigt, zudem gibt es ein vielfältiges Angebot an Tanz- und Theaterpädagogik. Es versteht sich als Sprachrohr der heranwachsenden Generation in Cottbus. 2018 bekam das Theater bundesweite Aufmerksamkeit, als sich die Brandenburger AfD in einer Kleinen Anfrage nach den Gründen der Förderung des Theaters erkundigte. Auslöser für diese Anfrage war eine vom Bund Deutscher Amateurtheater ausgezeichnete Produktion des Jugendclubs, in der vor den Gefahren des Faschismus gewarnt wird. Zudem kündigte Björn Höcke bei einem Besuch in Cottbus an, im Fall eines Wahlsiegs sämtliche Gelder für Projekte, die sich gegen Rechtsextremismus wenden, zu streichen.

Die Schaubühne

Die Schaubühne wurde 1962 gegründet. Seit 1999 wird sie von Thomas Ostermeier künstlerisch geleitet. Pro Spielzeit bringt die Schaubühne mindestens zehn neue Aufführungen zur Premiere. Daneben ist im Wechsel ein Repertoire aus über dreißig Produktionen zu sehen. Ausgehend vom Gedanken des Ensembletheaters, das im Kern seit 1999 zusammenarbeitet und beständig durch Neuengagements erweitert wird, stehen an der Schaubühne die Schauspieler:innen, die dramatischen Figuren und Situationen des Stücks im Zentrum. Kennzeichnend ist dabei die stilistische Vielfalt der Regiehandschriften, die auch neue Formen des Tanz- und Musiktheaters einbezieht. Verbindendes Element ist die Suche nach einer zeitgenössischen und experimentellen Theatersprache, die ihren Fokus auf das Erzählen von Geschichten und die präzise Durchdringung des Textes setzt – des klassischen ebenso wie des zeitgenössischen. Zum Repertoire gehören sowohl die großen Titel der dramatischen Weltliteratur als auch die zeitgenössische Dramatik international anerkannter Autor:innen, die mit über 100 Ur- und deutschen Erstaufführungen in den letzten 19 Jahren ein zentraler Bestandteil der Theaterarbeit waren. 

Datenblatt

Projektpartner:in:

Piccolo Kinder- und Jugendtheater Cottbus

Schaubühne Berlin

Projekt-Website

Laufzeit: 01.10.2021 bis 31.12.2022