Nur noch 15 Kriegsgefangene des Zweiten Weltkriegs leben in der Ukraine, so die Organisation Kontakte-Kontakty, die sich mit den Opfern des Nationalsozialismus befasst. Die meisten von ihnen sind nicht oder nur eingeschränkt mobil und benötigen Hilfe bei der Bewältigung des Alltags. Wie geht es ihnen im aktuellen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine? Die Journalistin Lesya Kharchenko hat sich mit Oleksandr Pavlovych Khomenko für die Stiftung EVZ zum Gespräch getroffen.
Oleksandr Pavlovych Khomenko wurde im November 1923 im Dorf Davydky in der Region Schytomyr, Ukraine, geboren. Er studierte an der technischen Hochschule für Eisenbahnwesen in Kyjiw. 1942 wurde er an die Front eingezogen und diente als Aufklärer einem Artillerieregiment. In der Nähe von Charkiw wurde er verwundet und in Gefangenschaft genommen, wo er drei Jahre blieb. Nach dem Krieg erlangte Oleksandr Pavlovych zwei Hochschulabschlüsse: Er studierte Physik und Mathematik am pädagogischen Institut in Kyjiw und schloss das polytechnische Institut in Kyjiw ab. Bis zu seiner Rente arbeitete er als Lehrer.
„Oleksandr Pavlovych!“, rufe ich am Holztor, das von innen mit einem Riegel verschlossen ist. „Oleksandr Pavlovych!“ – Schweigen. Auf der anderen Straßenseite sitzt ein junger Mann auf der Veranda eines Hauses und liest Zeitung, ohne meine Rufe zu beachten. Eine Nachbarin, die Unkraut jätet, hält inne. Ich frage sie: „Wissen Sie, ob Oleksandr Pavlovych zu Hause ist?" Sie wendet sich mir zu, wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab: „Er müsste zu Hause sein. Es sei denn, es ist etwas passiert. Die beiden sind ja nicht mehr die Jüngsten.“ Sie lässt ihre Arbeit liegen und kommt zu mir herüber. Schon rufen wir zweistimmig – aber niemand antwortet.
Die Nachbarin ist besorgt: „Ich habe sie seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Obwohl, das Gewächshaus steht offen, vielleicht arbeitet seine Frau, Mariya Markovna, da drin. Und Oleksandr Pavlovych hört uns nicht.“
Wir rufen noch einmal, drücken auf die Klingel, die wir an einem kleinen Schuppen neben dem Tor entdecken. Nach ein paar Minuten regt sich langsam etwas auf der Veranda. „Na Gott sei Dank, du lebst noch“, sagt die Nachbarin. „Ich lasse euch zwei dann mal alleine.“
Oleksandr Pavlovych ist ein großer, schlanker Mann, aber er bewegt sich langsam – seine Beine sind schwer. Er grüßt freundlich: „Kommen Sie herein, ich mache gerade Frühstück für mich und meine Frau, sie ist krank.“ Mariya Markovna, Oleksandr Pavlovychs Frau, liegt tatsächlich im Zimmer und kann nicht aufstehen. Sie wurde 1930 geboren, Oleksandr Pavlovych kümmert sich um sie. Ihre Tochter, ebenfalls schon Rentnerin, wohnt in der Nähe. Ihre Enkelin ist mit ihrem Sohn nach Spanien geflüchtet, als Russland in der Ukraine einmarschierte. „Dabei ist sie unsere einzige Stütze“, beklagt sich Oleksandr Pavlovych. Wir setzen uns auf die Stufen der Veranda.
O. P.: Im Jahr 1942 wurde ich zur Armee eingezogen, da war ich 19. Die Kämpfe fanden in der Nähe von Charkiw statt, in Isjum, wo auch jetzt gerade gekämpft wird. Als die Deutschen die Front durchbrachen, wurden wir eingekesselt und traten den Rückzug in Richtung Stalingrad an. Dort wurde ich verwundet.
Schauen Sie (zeigt mir sein Schlüsselbein und den Rücken unter seinem Hemd), was für ein Loch ich hier habe. Da ist das Geschoss ausgetreten. Ich zog meinen Reißverschluss immer ganz hoch, und die Kugel traf mitten rein, riss ein Stück von meinem Körper weg und kam zwischen den Schultern wieder heraus. Meine Wirbelsäule lag frei, eine große blutende Wunde. Aber wenn der Reißverschluss nicht gewesen wäre, wäre ich auf der Stelle tot gewesen. Es gab keine Bluttransfusionen, weil sich die Armee auf dem Rückzug befand. Während man mir einen Verband anlegte, hörte ich die Worte: „Er wird nicht überleben“. Aber ich war bei Bewusstsein und antwortete: Nein, ich werde überleben. Offenbar war der Verband gut gemacht. Ein paar Tage lang war es sehr schwer, ich verlor immer wieder das Bewusstsein, dann hörte das auf und es ging langsam bergauf. Alle waren überrascht, dass ich überlebt habe. Und jetzt bin ich 99 Jahre alt. Da sehen Sie mal!
Mit dieser Verletzung wurde ich gefangen genommen. Mit einer Gruppe anderer Verwundeter wurde ich von einem Lager ins nächste transportiert. Ich erinnere mich an Kantemirowka, Krementschuk. Dort war ich fast ein Jahr. Die Behandlung war primitiv, ich wurde von meinen Mitgefangenen versorgt, es gab keine Prozeduren, es wurde alles mit Verbänden behandelt. Das wichtigste Medikament war Rivanol (ein Antiseptikum), andere Medikamente gab es nicht. Nur wer einen gesunden Organismus hatte, konnte überleben. Dass Gefangene reihenweise gestorben sind, ist keine Neuigkeit. Erstens, durch Verletzungen. Und zweitens waren die Menschen psychisch einfach nicht in der Lage, die Umstände zu ertragen. Das führte oft zu den unerwartetsten Vorfällen. Die Menschen verzweifelten an allem. Aber ich lebte von der Überzeugung, den Frieden noch zu erleben. Ich war sicher, dass Hitler nicht gewinnen konnte.
Bereits im Herbst 1942 wurde ich mit einer Gruppe Kriegsgefangener von mehr als 1.000 Menschen nach Deutschland geschickt, ins Lager Stalag VII A. Das war in Bayern. Die Wunde war verheilt, ich trug keinen Verband mehr. Ich habe in der BMW-Fabrik in der Nähe des Konzentrationslagers Dachau gearbeitet. Die Fabrik stellte Flugzeuge her. Und die Werkstatt, in der ich landete, produzierte die Flugzeugmotoren. Die Mannschaft, die mit mir in der Maschinenwerkstatt arbeitete, bestand aus unseren Jungs, die zu Beginn des Krieges in Gefangenschaft geraten waren.
O. P.: Ich habe unter der Aufsicht eines deutschen Meisters gearbeitet, wir haben Junkers-87 und Junkers-88 hergestellt und zusätzliche Ausrüstung gegen Radarabhörung eingebaut.
In der Maschinenwerkstatt arbeitete der Kriegsgefangene Gavrilov, der ein Fachmann für Metallarbeiten und Maschinenbau war. Bei einer der abendlichen Kontrollen stellte sich heraus, dass ein Arbeiter aus der Werkstatt fehlte. Es war Gavrilov. Auf dem Gelände schlugen sie Alarm, aber die Suche verlief ergebnislos. Dann erinnerte sich der Vorarbeiter, der mit Gavrilov zusammenarbeitete, dass er ein sehr einfallsreicher Mann war. Er beschloss, im Keller der Maschinenhalle nachzusehen, der sich abschließen ließ. Er vermutete, dass Gavrilov einen Schlüssel nachgemacht haben könnte. Und tatsächlich, sie öffneten den Keller und fanden ihn dort. Er wurde misshandelt und danach erschossen.
Die Erschießung von Gavrilov war eine Schauhinrichtung – das Kommando über die Lagerwachen hatte ein untergeordneter Offizier der SS-Truppen, es handelte sich um einen wichtigen Standort, einen Flughafen. Die Wachen hatten das Recht, diejenigen zu erschießen, die flohen oder eine Flucht vorbereiteten, ohne dass dies Konsequenzen hatte. Wenn ein Flüchtiger jedoch in einer anderen Einheit landete, wurde die Angelegenheit nicht bis zum Erschießungskommando verfolgt. Sie wurden dem Zentrallager übergeben, wo sie bestraft, mit Geldstrafen belegt usw. wurden, aber von Erschießung war nicht die Rede.
Unter diesen Bedingungen beschloss ich, eine Flucht zu organisieren und auszubrechen. Es war sehr riskant und unsicher. Wir standen unter strenger Bewachung. Offenbar wurde ich bei einer geheimen Gruppe denunziert. Ich wurde zum Verhör vorgeladen und dann als verdächtige Person aus dem Lager isoliert. Ein paar Monate später wurde ich in die Stadt Dingolfing an der Isar geschickt, in eine Landmaschinenfabrik. Dort kam ich mit einer Gruppe von jungen Männern in Kontakt, und wir beschlossen erneut zu fliehen.
In den Jahren meiner Gefangenschaft unternahm ich vier Fluchtversuche, die alle erfolglos waren. Ich wurde bestraft. Der erste Ausbruch mit sieben Tagen Einzelhaft, der zweite mit 20 Tagen, dann 28, und dann kam ich in ein Strafbataillon. Wir wurden in den Sicherheitsbereich einer Einheit versetzt, die zu einem anderen Lager gehörte als dem, aus dem wir geflohen waren. Die Flucht ist ein sehr riskanter Moment im Leben eines Kriegsgefangenen.
O. P.: Nach meiner dritten Flucht bekam ich 28 Tage Einzelhaft und wurde danach in das Strafarbeitskommando 190 des Lagers VII A geschickt, das in einem Steinbruch östlich von Ingolstadt am linken Donau-Ufer eingesetzt wurde. Das Team bestand aus 20 bis 25 Personen, die ständig dort wohnten. Die Hütte war primitiv und grenzte mit einer Wand an den Felsen. Es gab auch eine überdachte Küche, in der Deutsche, die keine Kriegsgefangenen waren, arbeiteten. Das Ganze war von Stacheldraht umgeben. Man konnte nur von der Kaserne zum Steinbruch und vom Steinbruch zur Kaserne gehen. Dort verbrachte ich drei Monate. Weggelaufen bin ich nicht mehr.
Ja, das Lager 190 war eine harte Prüfung, der reine Horror. Die Menschen trugen Verletzungen davon, ließen ihre Gesundheit dort. Es gab eine Norm für eine Person: pro Schicht 18 Wagenladungen Stein (eine Wagenladung war ein Kubikmeter). Die Nichteinhaltung dieser Norm wurde mit Nahrungsentzug oder körperlicher Züchtigung bestraft. Es war die härteste Zeit. Um die geforderte Norm nicht erfüllen zu müssen, legte ich meinen Finger auf einen Stein und schlug mit einem Hammer drauf, verletzte mich also absichtlich. Die Deutschen reagierten misstrauisch, aber die Norm wurde geändert. Sie setzten mich am Förderband ein. Die Förderkarren fuhren über das Band hoch, drehten sich, und die Steine fielen in den Transportwagen. Die Narbe habe ich immer noch. Wenn es kalt ist, tut sie zuerst weh.
Bei den anderen Arbeiten war das anders. Es war das Übliche: Du machst deine Arbeit und das war‘s. Viel hing von dem Kontakt zu den Meistern ab, die den Kriegsgefangenen vorstanden. Zum Beispiel, ob man mit den Deutschen sprechen konnte. Manchmal wunderten sie sich, woher ich meine Sprachkenntnisse hatte. Aber ich war gut in der Schule. Diese Sprachkenntnisse haben mir sehr geholfen. Die Deutschen betrachteten mich anders.
O. P.: Das ist eine komplizierte Frage. Für mich war es wichtig, zu überleben. Die Bedingungen, unter denen die Häftlinge lebten und arbeiteten, waren sehr hart. In Deutschland war ich wie jemand, der nur zu arbeiten hatte und nicht an ein anderes Leben denken durfte. Du bist Kriegsgefangener und sonst nichts. Der Hunger war der wichtigste Begleiter der Kriegsgefangenen. Ich hatte den Glauben daran verloren, dass ich jemals eine Kartoffel essen würde. Und als ich aus der Gefangenschaft entlassen wurde und auf meine Repatriierung wartete, war das wie das Paradies.
Aber ich habe immer daran geglaubt, dass ich frei sein werde. Der Glaube an die Freiheit, das wurde mir nach allem klar, war das Wichtigste, das mich in meinem Leben geleitet hat.
O. P.: Mein Lebensweg war sehr kompliziert. Der Status eines Kriegsgefangenen brachte gewisse Einschränkungen mit sich. Ich bewarb mich zum Beispiel für ein Postgraduiertenstudium in Mathematik an der Akademie der Wissenschaften, wurde aber genau aus diesem Grund abgelehnt. Nach Stalins Tod änderte sich die Situation ein wenig, aber wenn es um die Belohnung von Arbeitserfolgen ging, waren die Einschränkungen deutlich zu spüren. Es ist schmerzhaft, sich daran zu erinnern, aber das ist die Realität.
Ich hatte das Glück, dass man sich bei meiner Arbeitsstelle nicht besonders für meinen Lebenslauf interessierte. Aber als ich eingeladen wurde, der Kommunistischen Partei beizutreten, tauchten Widersacher auf, die anfingen, in meiner Biografie zu wühlen. Deshalb musste ich meine Stelle in der Region Schytomyr aufgeben und in die Region Kyjiw umziehen.
Trotz seines beachtlichen Alters ist Oleksandr Pavlovych geistig sehr klar und hat vor einigen Jahren ein Buch über die historisch komplexen Beziehungen und die Feindseligkeit Russlands gegenüber der Ukraine geschrieben. Der Krieg drängt sich ganz von selbst in unser Gespräch. Der ehemalige Kriegsgefangene ist mit den neuesten Waffentypen bestens vertraut, verfolgt das Geschehen an der Front. Ich frage ihn: „Woher nehmen Sie Ihre Informationen?“ – „Ich lese die Zeitung Ukraina Moloda und analysiere viele Dinge.“ Während des Gesprächs ertönt zweimal die Sirene – der Luftschutzalarm. Aber Oleksandr Pavlovych schenkt ihnen keine Beachtung – vielleicht hört er sie auch nicht.
O. P.: Ich kannte die Geschichte der Ukraine und war überzeugt, dass man von Russland nichts Gutes erwarten kann. Ich wurde 1923 geboren und bin auf dem Land in Polesien aufgewachsen, im Dorf Davydky im Gebiet Schytomyr. Nach allem, was die Presse berichtete, ging ich davon aus, dass die Russen durch den Verwaltungskreis Narodytschi vorrücken würden – und so war es auch. Sie zogen durch dieses Gebiet und hinterließen Verwüstung. Auch das Dorf, in dem ich geboren wurde, haben sie mit Raketen zerstört. Genau wie die Nachbardörfer. Sie haben die Brücken gesprengt, als sie sich zurückziehen mussten. Ich hörte, dass eine Rakete auf dem Friedhof eingeschlagen ist. Dort liegen meine Eltern. Ich kann nicht dahin, um es mir anzusehen. Ich empfinde Hass gegenüber meinen Feinden, solche Dinge sind mir fremd und unverständlich. Sie sehen, was für ein Krieg das ist.
O. P.: Es ist schwierig für mich, ihnen etwas zu sagen. Ich staune über sie und ich leide mit ihnen mit, sie ertragen Dinge, die unsere Kriegsgefangenen in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs nicht ertragen mussten. Vor allem diese Art von Folter, die es in Russland gibt, das ist faktisch eine barbarische Praxis. Die Situation ist sehr schwierig.
Ich würde unseren Jungs gerne sagen, dass sie trotz allem Vertrauen in ihren Staat haben sollen. Die Komplexität der Umstände, in denen sich die Ukraine befindet, ist etwas, das es in der Geschichte noch nie gegeben hat. Ich habe den Eindruck, dass das Leben der Ukrainer auf dem Gipfel der Schwierigkeiten angelangt ist. Wie es weitergehen wird, ist für mich schwer vorstellbar. Aber ich war immer überzeugt, dass die Ukraine ein starker Staat sein wird, mit einer eigenen Zukunft.
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Ich unterhielt mich mehrere Stunden lang mit Oleksandr Pavlovych. Trotz des langen, ermüdenden Gesprächs schien er mich nicht gehen lassen zu wollen. Die Kriegsgefangenschaft ist nur ein Teil seiner Erinnerungen.
Er erzählte bereitwillig, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg im zivilen Leben verwirklichen konnte. Über seine langjährige Arbeit an der Schule, wo er Physik, Mathematik und Deutsch unterrichtete. Kürzlich hatte er Besuch von seinen Schüler:innen, einer Gruppe, die er als Klassenlehrer geleitet hatte. Sie feierten ihr 50-jähriges Abschlusstreffen der Oberschule und beschlossen, ihren Lehrer zu besuchen. Eine ganze Delegation kam, die Schüler:innen selbst schon Rentner. „Ist das nicht ein Segen?“, fragt der 98-jährige ehemalige Kriegsgefangene.
Er begleitet mich zum Tor, schaut mir hinterher, bis ich um die Ecke gebogen bin. Er trägt ein weißes T-Shirt, und als er sich umdreht, um zu seiner Hütte zu gehen, entdecke ich den Aufdruck: „Ich liebe Krjukiwschtschyna.“ Krjukiwschtschyna ist das Dorf bei Kyjiw, in dem er mit seiner Frau lebt und das er nie verlassen wird.
Das Gespräch fand im Spätsommer 2022 statt.