Wie Silke Schatz’ Werkgruppe Terezín neue Räume des Gedenkens schafft

Wie Silke Schatz’ Werkgruppe Terezín neue Räume des Gedenkens schafft

Projekte im Förderschwerpunkt „Bilden in kulturellen Räumen“ eröffnen einzigartige, Empathie fördernde und kreative Zugänge zur komplexen Geschichte der Verfolgung im Nationalsozialismus und zum künstlerischen Erbe der NS-Opfer. Ein Beispiel dafür, welche Schlüsselrolle Kultur für eine lebendige Erinnerung an das nationalsozialistische Unrecht spielen kann, zeigt sich im Stern des Erinnerns.

Wie sollen wir uns erinnern? Aleida Assmann fragte in ihrem 1999 erschienenen Buch „Erinnerungsräume“, wie subversiv Erinnerungskultur sein muss, um die Verhärtungen des Vergessens und Verdrängens aufzusprengen. Die Literaturwissenschaftlerin schrieb mit Blick auf das Werk von Künstler:innen wie Anselm Kiefer von einer Erinnerungskunst, die nach dem Vergessen komme, die sie als „Schadenstherapie“ bezeichnete, als „Einsammeln zerstreuter Reste, die Bestandsaufnahme des Verlusts“.

Silke Schatz verfolgt mit ihrem Werk einen anderen Ansatz. Die in Köln lebende Künstlerin stellt zu ihren Themen, die oftmals Unrechtskontexte betreffen, Distanz her, fächert die Themen auf, um neue Räume der Auseinandersetzung zu schaffen. Angeregt von der Lektüre des Romans „Austerlitz“ von W. G. Sebald (1944–2001) reiste sie 2004 nach Terezín (Theresienstadt). Der Autor beschreibt die Leere der verfallenden Stadt, die blinden Fenster, die ihm unheimlich vorkommenden „Türen und Tore (…), die sämtlich (…) den Zugang versperrten zu einem noch nie durchdrungenen Dunkel“. Im Text abgebildete Schwarz-Weiß-Fotografien zeigen fleckige Fassaden und geschlossene Türen.

Anders als W. G. Sebald beschwört Silke Schatz das in den Ort eingeschriebene Grauen nicht. Wie seine Figur Austerlitz besucht sie das Ghetto-Museum und fotografiert Fassaden. Wie er begriff sie vielleicht alles und begriff auch nichts, weil die Zeugnisse der systematischen Vernichtung der Internierten auch ihre Vorstellungskraft überstiegen. Zurück in ihrem Atelier fertigte sie eine Konstruktionszeichnung an, setzte einen Fluchtpunkt und zog gerade Linien, aus denen transparente Räume mit neuen Projektionsflächen entstanden.

Ihre großformatige Zeichnung „Terezín I. Grundriss von Terezíns öffentlicher Schautafel: Ghetto 1941–46 und aktuelle Hauswandfarbenstudie“ saugt die Betrachter:innen in das leere Zentrum der sternförmigen barocken Anlage hinein. Ihre Konstruktionslinien setzen an den zentralen Gebäuden des Grundrisses der ehemaligen Garnisonsstadt an und schießen wie eine Explosionszeichnung auseinander. Als Ausgangspunkt für die Zeichnung diente ihr kein beliebiger Grundriss, sondern eine konkrete Schautafel, auf die sie bei ihrem Besuch in Terezín gestoßen war.

Die mehr als zwei Meter hohe und breite Zeichnung scheint auf den ersten Blick rein technischer Natur zu sein. Nichts weist auf eine inhaltliche Ebene der Arbeit hin. Was bei genauerem Hinsehen auffällt, ist, dass Silke Schatz Buntstifte benutzte. Die gewählten Farben beziehen sich auf die von der Künstlerin minutiös dokumentierten Wandfarben der Häuser von Terezín. Die Zeichnung spannt symbolisch Fäden, ausgehend von einem historischen Ort des Unrechts – ausstrahlend in die Welt.

Neben ihren Zeichnungen baut Silke Schatz aus Fotos, Pappe und Papier Objekte, die manchmal auch als Lampen fungieren. „brundibár“ ist eine solche knapp zwei Meter hohe Materialcollage, die von einer Glühbirne erleuchtet wird. Die Künstlerin fertigte einen 16-strahligen Stern aus gelbem Transparentpapier an, dessen Mitte ein aus schwarzem Tonpapier geschnittenes Bild einnimmt. Dieses Bild ist wie bei einem gebastelten Weihnachtsstern mit farbigem Transparentpapier hinterlegt. Die abstrahierte Szene basiert auf den Filmaufnahmen der Kinderoper „Brundibár“ des Prager Komponisten Hans Krása (1889–1944), die am 23. September 1943 im Ghetto Theresienstadt uraufgeführt wurde.

Die 1939 für einen Wettbewerb komponierte Oper handelt von dem siegreichen Kampf der Kinder gegen den Leierkastenmann Brundibár. Aninka und Pepiček versuchen mit Straßenmusik Geld zu verdienen, um der kranken Mutter Milch kaufen zu können. Sie können mit ihrem Gesang aber nicht durchdringen, weil der Leierkasten sie übertönt. Mithilfe der Tiere und der anderen Kinder gelingt es ihnen, sich gegen Brundibár durchzusetzen. Was Hans Krása zunächst als Kampfansage an die aufkommende mechanisch erzeugte Musik konzipiert hatte, wandelte sich im Kontext der Judenverfolgung in ein Lehrstück politischen Widerstands gegen Hitler.

Die vielen kulturellen Angebote des „selbst verwalteten“ Ghettos können aber auch über die Gefahr hinwegtäuschen, in der die internierten Kinder in Theresienstadt schwebten. Silke Schatz’ „brundibár“ erinnert an die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, verschweigt aber auch die Bedrohung nicht. Das fein ziselierte Ornament im Inneren des Sterns erweist sich als Kranz brennender Fackeln. Sie münden in einen aus schwarzer Pappe geschnittenen, achtteiligen Stern, dessen Zacken an Stacheldrahtverhaue der Konzentrationslager denken lassen. Im Zentrum ruht ein Foto der im Ghetto mehr als 55-mal aufgeführten Kinderoper.

Die Terezín-Werkgruppe von Silke Schatz kreist um das Motiv des Sterns. In ihren Arbeiten hallen die Form und Struktur der Festung Theresienstadt nach, der Davidstern als Symbol des Judentums, der während der NS-Zeit als Zeichen der Ausgrenzung erfundene Judenstern, genauso wie die gebastelten und von innen an das Fensterglas geklebten Weihnachtssterne der Stadt Terezín. In diesem neu geschaffenen Stern des Erinnerns hallt die Widersprüchlichkeit eines sich kulturell formulierenden Widerstands nach. Nach Beendigung des Propagandafilms im Spätsommer 1944 ließ das NS-Regime die Kinder und Hans Krása nach Auschwitz deportieren und töten.

Jede „Brundibár“-Aufführung heute schlägt eine Brücke des Erinnerns und weist über den engeren Kontext der Entstehung hinaus.

Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger warnt in ihrem Buch „weiter leben“ davor, dass traumatische Orte wie Konzentrationslager zu verfälschenden Erlebnisorten werden und berichtet von einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau: „Da war alles sauber und ordentlich, und man brauchte schon mehr Phantasie, als die meisten Menschen haben, um sich vorzustellen, was dort vor vierzig Jahren gespielt wurde. Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind, und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben.“

Aleida Assmann fordert: „Der Abstand zwischen dem Ort der Opfer und dem der Besucher muss sinnfällig gemacht werden.“ Das affektive Potenzial von Erinnerungsorten dürfe nicht zu einer „illusionären Identifikation“ führen.

Silke Schatz schlägt mit ihrer Arbeit einen Weg der Annäherung vor, der dies ausschließt.

Autorin: Carmela Thiele

 

Im Projekt der Bildungsagenda NS-Unrecht „Ich wandre durch Theresienstadt“ setzen sich Schüler:innen und Lehrer:innen gemeinsam mit Kompositionen von Pavel Haas und Hans Krása und den Texten der Lyrikerin Ilse Weber auseinander.