Ein Ausstellungsprojekt auf der Suche nach der kulturellen Identität der Sinti:ze und Rom:nja
Die Projekte der Bildungsagenda NS-Unrecht machen die Schicksale verfolgter Menschen und Gruppen sichtbar, mit einem besonderen Fokus auf diejenigen, die bisher weniger öffentliche Aufmerksamkeit erhalten haben.
Ein Beispiel dafür ist das Ausstellungsprojekt des Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.
Im Herzen der historischen Altstadt Heidelbergs, umgeben von kopfsteingepflasterten Straßen und jahrhundertealten Gebäuden, über denen das auf einem Hügel gelegene Heidelberger Schloss thront, befindet sich eine einzigartige Institution: das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma.
1997 eröffnet, beherbergt das Gebäude neben einer Ausstellung, die den nationalsozialistischen Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja erstmals dokumentierte, auch den Zentralrat Deutscher Sinti und Roma.
Seine Bedeutung weist weit über die Stadtgrenzen hinaus: Das Heidelberger Zentrum steht für jahrzehntelange Bürgerrechtsarbeit in der Auseinandersetzung über die Anerkennung des Verfolgungsschicksals der Rom:nja und Sinti:ze während des Nationalsozialismus.
Die über viele Jahrhunderte erlittene Diskriminierung und Verfolgung gipfelten in der rassistischen Ideologie der Nationalsozialisten. Sie deportierten Menschen in Ghettos und Konzentrationslager, machten sie zu Zwangsarbeiter:innen, missbrauchten sie für medizinische Versuche und ermordeten sie. Dem Völkermord an den europäischen Sinti:ze und Rom:nja fielen mehr als 500.000 Menschen zum Opfer. In ihrer gemeinsamen Sprache, dem Romanes, wird der Genozid als „Porajmos“ oder „Samudaripen“ bezeichnet – auf Deutsch „das Verschlingen“ und „vollständiger Mord“ –, um das Grauen der Vernichtung in Worte zu fassen.
Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber der Minderheit war jahrzehntelang in der deutschen Erinnerungskultur, in Gedenkstätten und Museen unsichtbar.
Erst 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Genozid an: „Sinti und Roma ist durch die NS-Diktatur schweres Unrecht zugefügt worden. Sie wurden aus rassischen Gründen verfolgt. Viele von ihnen wurden ermordet. Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt.“
Mit den ermordeten Menschen verschwand auch ein Stück des kulturellen Erbes
Es gibt bis heute weder eine museale Sammlung noch ein Archiv, das den lange verdrängten und geleugneten Völkermord an den Sinti:ze und Rom:nja, ihre Verfolgungsgeschichte und kulturelle Identität zentral dokumentiert.
Ein Projekt des Heidelberger Zentrums schließt diese Lücke und wird die vorhandene Sammlung des Dokumentationszentrums um einen kulturellen Erinnerungsspeicher erweitern.
„Jetzt stehen wir vor der großen Herausforderung, auch gesellschaftlich dem oftmals klischeehaften Bild, das die Mehrheit von den Angehörigen der Minderheit noch immer hat, ein reales Bild entgegenzustellen. Daher wollen wir noch mehr die Einflüsse in den Vordergrund stellen, die Sinti und Roma auf die kulturelle Entwicklung Europas hatten und noch immer haben.”
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, anlässlich des 40. Jahrestags der Anerkennung des Völkermords im März 2022
1.000 Objekte erzählen die Geschichte der Sinti:ze und Rom:nja
Ein Kuscheltier, ein Schmuckstück oder Fotos und Dokumente: Im Sammlungsprojekt wird ein breites Spektrum von über 1.000 Exponaten zusammengetragen, identifiziert, wissenschaftlich dokumentiert und aufbereitet.
Der Fokus liegt auf persönlichen Objekten mit Verbindung zur nationalsozialistischen Verfolgung. Die Sammlung geht aber auch darüber hinaus und zeigt Kontinuitäten von Stigmatisierung und Entrechtung der Sinti:ze und Rom:nja.
Prominente Testimonials stellen ihre Geschichten vor und zeigen Objekte, die beispielhaft für ihre Identität als Sinti:ze oder Rom:nja stehen: Zu ihnen gehören die NS-Überlebende und Zeitzeugin Rita Prigmore sowie der Bürgerrechtler und heutige Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose.
Der Vielfalt der Objekte ist die Art ihrer Erschließung gemein: Sie werden über ihre jeweilige Geschichte erschlossen und sind eng verwoben mit den Biografien der Menschen, die diese Objekte geschaffen, besessen oder benutzt haben.
Die Exponate werden zum Sprechen gebracht und brechen mit bestehenden Narrativen: Der Widerstandspass eines slowakischen Rom etwa erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich trotz Verfolgung und Lebensgefahr dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus anschloss.
Ein partizipatives Sammlungsprojekt aus der Community
Das Projekt arbeitet mit einem partizipativen Ansatz: Gezielt werden Selbstorganisationen und Menschen aus der Community zur Mithilfe aufgerufen und als Stifter:innen und Leihgeber:innen potenzieller Exponate angesprochen.
Ein in der Minderheit weitverzweigtes Netzwerk aus 35 Kooperationspartnern ermöglicht es, die Sammlung zur Erinnerung an die Verfolgung, Ermordung und fortwirkende Entrechtung der Rom:nja und Sinti:ze gemeinsam mit der Community aufzubauen und nachhaltig in dieser zu wirken.
Junge Menschen in der Community werden durch Social-Media-Kampagnen aktiv einbezogen, um ihre vergessene und bisher unerzählte Geschichte sichtbar zu machen und sie vor dem bevorstehenden Ende der Zeitzeug:innenschaft für die Nachwelt festzuhalten.
Autorin: Sophie Ziegler