Interview mit Nina Lüders

Zum Internationalen Kindertag haben wir mit Nina Lüders, Geschäftsführerin der Kreisau-Initiative e. V., zu Kinderrechten heute, der Geschichte der geraubten Kinder im NS und ihr Bildungsagenda-Projekt „Uprooted – (Hi)Stories of Stolen Children during World War II“ gesprochen.

Heute ist Internationaler Kindertag – Welche Gedanken gehen Ihnen da durch den Kopf?

Ich denke vor allem an Kinderrechte und daran, wie die UN-Kinderrechtskonvention hierzulande und in anderen Ländern umgesetzt wird. Sie ist die am breitesten ratifizierte internationale Konvention. Dennoch werden in unserem Alltag Kinderrechte nicht überall durchgesetzt. Kinder – würde man sie danach fragen – würden sich wahrscheinlich auch nicht ausreichend gesehen und gehört fühlen. Jahrestage wie der 1. Juni sind immer ein Anlass, über bestimmte Themen nachzudenken, aber eigentlich sollte jeder Tag ein Tag des Kindes sein.

Worum geht es in Ihrem Projekt „Uprooted – (Hi)Stories of Stolen Children during World War II“?

Wir blicken in unserem Projekt auf Kinder aus Mittel- und Osteuropa, die während des Nationalsozialismus vor allem durch die SS-Organisation Lebensborn aus ihren Familien herausgerissen, verschleppt und zwangsgermanisiert wurden. Es handelt sich hier um eine Gruppe von Opfern, die bislang wenig Beachtung erhalten hat, nicht entschädigt wurde und auch nicht zu den offiziellen Opfergruppen von NS-Unrecht zählt. Wir haben schnell festgestellt, dass es sich bei den geraubten Kindern um ein Thema handelt, dass in unseren Projektländern – Deutschland, Polen, Tschechien und die Ukraine – wenig diskutiert wird. Das wollen wir aufarbeiten. Darüber hinaus möchten wir das Thema mit in unsere Bildungsarbeit nehmen und an Schulen und im non-formalen Bildungsbereich nutzen. Für Jugendliche ist das interessant, weil sie eine Verbindung zu den Schicksalen dieser Kinder herstellen können. Sie sind oft in derselben Altersgruppe, manche haben auch selbst einen Bruch in der eigenen Biografie erlebt.

Sie beschäftigen sich mit Kindern, die vom NS-Regime verschleppt und zwangsgermanisiert wurden. Welche Relevanz hat so ein Thema heute?

Was uns in unserem Projekt interessiert, sind auch aktuelle Fragen: Wie werden Kinderrechte durchgesetzt? Gelten sie für alle Kinder in unserer Gesellschaft gleichermaßen – auch für Kinder von Minderheiten oder Flüchtlingskinder? Wir stellen diese Fragen in unseren Workshops mit Jugendlichen und schauen, was sie daraus machen – um dem Thema eine aktuellere Komponente an die Seite zu stellen.

Ein anderer wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass Kinder auch heute für ideologische Zwecke missbraucht werden. Über Kinder wurde und wird Einfluss auf die Gesellschaft genommen. In Argentinien etwa wurden unter der Militärdiktatur Kinder von Regimegegnern geraubt. Ein anderes Beispiel sind Kinder aus indigenen Familien, die von ihren Eltern getrennt und umerzogen wurden, weil der Staat vermeintlich besser wisse, was gut für die Kinder sei.

Aktuell gibt es Berichte, wonach Kinder aus der Ukraine nach Russland verschleppt werden. Bereits 2014 im russischen Krieg in der Ostukraine wurden Kinder von beiden Seiten als Soldaten eingesetzt. Diese Rekrutierung von Minderjährigen widerspricht den Kinderrechten.

Wie präsent ist die Geschichte der geraubten Kinder in der Forschung und in den Medien?

Das Thema ist ein blinder Fleck. Wir konnten es nicht in Schulbüchern finden oder uns erinnern, dass wir selbst etwas in der Schule darüber gelernt hätten. Journalist:innen und Forscher:innen, mit denen wir darüber sprechen, berichten uns, dass es ein interessantes Thema sei, sie aber wenig darüber wüssten. In Tschechien mussten die Kolleg:innen lange suchen, um zwei Historikerinnen zu finden, die zum Thema arbeiten; in der Ukraine ebenso. Es gibt in Polen etwas mehr Forschung dazu als in anderen Ländern, aber nicht viel. In Deutschland beschäftigt sich etwa die Professorin Isabel Heinemann mit dem Thema. Von Seiten des deutschen Staates wurde es offiziell abgelehnt, diese Gruppe zu entschädigen und als Opfer anzuerkennen.

Warum ist das Thema so wenig bekannt?

Eine Erklärung dafür könnte sein, dass die Betroffenen als Kinder verschleppt wurden, d.h. sie konnten sich kaum sichtbar machen und hatten keine Stimme. Es gibt außerdem wenig Spuren und Dokumentationen über ihren Verbleib. Nur wenige wurden wieder mit ihren Familien zusammengeführt und auch erst nach einem langen Prozess des Suchens.

Wie haben die geraubten Kinder letztlich von ihrem Schicksal erfahren?

Über Dokumente, Register oder eigene Recherchen. Manchmal hat jemand aus der Familie etwas gesagt. Einige Kinder konnten sich auch noch an ihre Verschleppung erinnern.

Was verbindet diese Kinder?

Eine Erfahrung, die viele der geraubten Kinder verbindet, ist die Unkenntnis des eigenen Schicksals: Viele wissen nicht, dass sie geraubte Kinder sind und zu einer Opfergruppe gehören. Nur wenige sind mit ihrer eigenen Geschichte und ihren Familien jemals wieder in Berührung gekommen. Wenn die eigene Familie aber gefunden wurde, hatte man sich oft nichts zu sagen und war sich fremd – das finde ich tragisch und traurig. Meist sprachen Kinder und Eltern nicht einmal mehr dieselbe Sprache. Was die Betroffenen auch eint, ist die Beschwerlichkeit der Suche nach der eigenen Herkunft und Familie sowie die fehlende Anerkennung als Opfergruppe.

Können wir als Gesellschaft heute etwas aus der Geschichte der geraubten Kinder mitnehmen?

Überspitzt gesagt, gibt es häufig zwei Extreme: Entweder werden Kinder übersehen, missachtet und nicht als vollwertiger Teil der Gesellschaft anerkannt. Oder aber sie werden überhöht und von Staaten instrumentalisiert. Wir sollten lernen, darauf zu achten und sensibel zu reagieren. Mir ist es wichtig, dass Kinder eine Stimme haben und als vollwertiger Teil unserer Gesellschaft anerkannt werden. Wir sollten uns fragen, wie wir als Gesellschaft mit Kindern umgehen und auf sie blicken. Die Bundesrepublik Deutschland sollte sich noch einmal der Frage stellen, warum die vom NS-Regime geraubten Kinder nicht als Opfergruppe anerkannt werden.

Zur Person: Nina Lüders

Nina Lüders ist Geschäftsführerin der Kreisau-Initiative e. V. Sie studierte Politikwissenschaft in Hamburg, Poznań/Posen und Berlin. Sie ist zertifizierte Betzavta-Trainerin und hat eine Zusatzausbildung in Kinderrechten von der Freien Universität Berlin. Sie leitet das Projekt „Uprooted - (Hi)Stories of Stolen Children during World War II“.