Dr. Elīna Šteinerte, lettische Menschenrechtsanwältin, Mitglied des UN-Unterausschusses zur Verhütung von Folter, ehemalige Berichterstatterin und Mitglied der UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen.

Frau Šteinerte, Sie wurden im April 2023 zur unabhängigen Expertin des Moskauer Mechanismus der OSZE für die Frage der gewaltsamen Verschleppung und/oder Abschiebung ukrainischer Kinder in die Russische Föderation ernannt. Ihre Aufgabe bestand darin, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren und Kinderrechtsverletzungen durch die russischen Behörden zu verfolgen. Welche allgemeinen Beobachtungen haben Sie feststellen können?

Wie die Kommission festgestellt hat, wurden seit dem 24. Februar 2022 und auch schon davor unzählige ukrainische Kinder aus dem Hoheitsgebiet der Ukraine in die vorübergehend besetzten Gebiete und in das Hoheitsgebiet der Russischen Föderation verschleppt. Zwar sind die genauen Zahlen nach wie vor ungewiss, doch wird die Tatsache, dass ukrainische Kinder in erheblichem Umfang verschleppt wurden, weder von der Ukraine noch von Russland bestritten. In dem Bericht der Kommission ging es in erster Linie um Waisenkinder und unbegleitete Kinder, da diese die am meisten gefährdeten Gruppen unter den verschleppten Kindern ausmachen. Im Bericht werden die drei am häufigsten aufgeführten Gründe für die organisierte Umsiedlung dieser Kinder genannt: (1) die Verschleppung aus Sicherheitsgründen, (2) die Überführung mit dem Ziel der Adoption oder der Aufnahme in eine Pflegefamilie und (3) der vorübergehende Aufenthalt in sogenannten Ferienlagern. Mit diesen Maßnahmen hat die Russische Föderation nicht nur wiederholt gegen das Wohl dieser Kinder verstoßen, sondern verweigert diesen Kindern unter anderem das Recht auf Identität, Familie und auf Zusammenführung mit ihren Familien. Darüber hinaus hat Russland gegen seine Verpflichtungen aus der Genfer Konvention verstoßen; und diese Methode der gewaltsamen Verschleppung könnte den Tatbestand einer Menschenrechtsverletzung erfüllen – den der „Deportation oder gewaltsamen Verbringung“ der Bevölkerung.

 

Wie ist es Ihnen gelungen, in einem Land zu recherchieren, in dem Krieg herrscht?

Der Moskauer Mechanismus der OSZE, der als Eilmechanismus gedacht ist, um rasch konkrete Ergebnisse zu erzielen, schreibt vor, dass der Bericht dem Ständigen Rat der OSZE innerhalb von drei Wochen vorzulegen ist. Angesichts des Ausmaßes des Problems und der Lage in der Ukraine ist dies nicht viel Zeit, sodass der Faktor Zeit eine echte Herausforderung darstellte. Zusätzlich zur Prüfung einer Vielzahl an Forschungsberichten und Berichterstattungen zum Thema begannen wir mit umfangreichen Online-Beratungen mit internationalen Organisationen, wie bspw. den Vereinten Nationen und den OSZE-Mechanismen, die vor Ort aktiv sind. Wir haben uns mit der Zivilgesellschaft außerhalb und innerhalb der Ukraine auseinandergesetzt und auch mutige Menschenrechtsaktivist:innen in Russland und im Ausland kontaktiert. Der Beitrag der Zivilgesellschaft war entscheidend. Zudem sind wir nach Kiew gereist, um uns mit den Behörden zu treffen. Dazu gehörten unter anderem der Beauftragte des ukrainischen Präsidenten für Kinderrechte, das Büro des Generalstaatsanwalts der Ukraine und der Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, sowie die Zivilgesellschaft vor Ort. Die Reise war eine äußerst anspruchsvolle Angelegenheit – mit gepanzerten Fahrzeugen, mit Luftangriffen und Luftschutzbunkern. Sie war jedoch ein weiterer wesentlicher Bestandteil der Untersuchung, der es ermöglichte, die in dem Bericht dargelegten Erkenntnisse zu untermauern.

 

Im Rahmen von EVZ Conversations! haben Sie uns versichert: „Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie mahlen.“ Derzeit scheint es, dass uns die Hände gebunden sind und die Täter:innen davonkommen könnten. Was kann die deutsche Zivilgesellschaft tun, um den Kampf für Gerechtigkeit zu unterstützen?

Ich finde nicht, dass irgendjemandem im Moment die Hände gebunden sind. Im Gegenteil – dies ist ein entscheidender Zeitpunkt, um Informationen zu sammeln und umfassend zu dokumentieren, was mit diesen Kindern geschehen ist. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Fall eines jeden Kindes individuell, einzigartig und unterschiedlich ist. Jeder Fall verdient entsprechende Aufmerksamkeit, um sicherzustellen, dass die Fakten sorgfältig dokumentiert und aufbereitet werden. Schließlich gibt es Tausende solcher Kinder. Es ist eine Mammutaufgabe, die die ukrainischen Behörden übernehmen. Sie freuen sich zweifellos über Unterstützung, nicht nur in Form von Fachwissen und Logistik, sondern auch hinsichtlich des Zugangs zu Informationen.

Es ist ebenfalls wichtig, das Thema im öffentlichen Bewusstsein zu halten, da manchmal eine gewisse Ermüdung in unserer Gesellschaft angesichts der Vorgänge in der Ukraine zu beobachten ist. Die Zivilgesellschaft ist hier besonders wichtig, um etwas zu bewegen.

Doch ich möchte auch die wichtigste Handlungsempfehlung der Kommission hervorheben. Die Kommission hat alle Beteiligten, ganz gleich ob Staaten oder Zivilgesellschaften, dazu aufgerufen, der Wiedervereinigung dieser Kinder mit ihren Familien höchste Priorität einzuräumen. Auch wenn es zweifellos wichtig ist, die Rechenschaftspflicht zu erfüllen, dürfen wir nicht vergessen, dass diese Kinder gerade jetzt dringend Unterstützung benötigen.

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