Am 19. April 2023 hat sich der Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto zum 80. Mal gejährt. Vier Wochen lang leisteten die Aufständischen bewaffneten Widerstand gegen den deutschen Besatzungsterror. Eine Sonderausstellung erzählt nun im Warschauer Museum POLIN die Geschichten der Zivilbevölkerung.

Wie ging es der jüdischen Zivilbevölkerung im Ghetto in dieser Zeit? Sie versteckten sich während des Aufstands in Bunkern, widersetzten sich den Aufrufen zur Deportation, die in den Tod führen sollten. Ihr stiller Akt des Widerstands war ebenso wichtig wie der bewaffnete Kampf.
Das Warschauer Museum POLIN (Museum der Geschichte der polnischen Juden) erzählt in der Sonderausstellung „Around Us a Sea of Fire. The Fate of Jewish Civilians During the Warsaw Ghetto Uprising” ihre Geschichten.
Die Ausstellungsmacher:innen konzentrierten sich auf Aufzeichnungen aus Tagebüchern, die während des Aufstands entstanden sind. Diese Worte sind oft alles, was überlebt hat, die einzige Spur, die von den Menschen geblieben ist.

Das Projekt wird im Förderprogramm Holocaust Education durch die Claims Conference, das Bundesministerium der Finanzen (BMF) und die Stiftung EVZ gefördert.

3 Fragen an Zuzanna Schnepf-Kołacz

Kuratorin der Ausstellung „Around Us a Sea of Fire. The Fate of Jewish Civilians During the Warsaw Ghetto Uprising” im POLIN Museum

 

Welche Geschichten will die von Ihnen kuratierte Ausstellung zum 80. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto erzählen? Auf welche Perspektiven konzentrieren Sie sich?

Die Ausstellung „Around Us a Sea of Fire. The Fate of Jewish Civilians During the Warsaw Ghetto Uprising“ erzählt die Geschichten der jüdischen Zivilbevölkerung, die während des Aufstands im Ghetto gefangen war. Ihre Geschichten wurden viele Jahre lang von den Erzählungen über den bewaffneten Aufstand überlagert. Fast 50.000 Menschen versteckten sich in unterirdischen Bunkern und anderen Verstecken - von den meisten von ihnen kennen wir nicht einmal ihre Namen. Sie hatten keine Hoffnung auf Rettung, aber sie wollten sich den Nazis widersetzen. Sie widersetzten sich den Aufrufen zur Deportation und blieben im Versteck. Sie kämpften gegen die Verzweiflung, die Einsamkeit, den Hunger und die Angst, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Ihr stiller Akt des Widerstands war ebenso wichtig wie der bewaffnete Kampf.
Wir erzählen die Geschichte der Zivilbevölkerung mit ihren eigenen Worten, indem wir ihre Aufzeichnungen verwenden, die sie während des Krieges oder unmittelbar danach geschrieben haben. Es ist oft das einzige historische Material, das ihr Schicksal dokumentiert und das bis heute erhalten geblieben ist. Wir schildern die Geschichte der Zivilbevölkerung aus der Perspektive der Opfer - der Jüdinnen und Juden. Deshalb haben wir uns entschieden, keine NS-Dokumente und Bildmaterialien zu verwenden, da wir die Jüdinnen und Juden nicht durch deutsches Propagandamaterial, das von den Tätern aufgenommen wurde, betrachten wollen.
Bei dieser Ausstellung handelt es sich nicht um eine traditionelle historische Darstellung des Themas. Es gibt nur wenige historische Erläuterungen zum historischen Kontext. Das wichtigste Material, auf dem wir die Erzählungen aufbauen, sind Zitate aus persönlichen Erzählungen. Viele von ihnen beschreiben die Gefühle, Gedanken und Erfahrungen ihrer Autor:innen. Es ist eine sehr persönliche Perspektive, nah an den Menschen und ihren Gefühlen.

Da fast alle Erinnerungsstücke aus dem Warschauer Ghetto zerstört und verbrannt wurden, basiert die Ausstellung auf Zeitzeugenberichten: Wie ist es Ihnen gelungen, die Erfahrungen und Gefühle der Verfasser:innen in einer Ausstellung sichtbar zu machen?

Wir betrachten die Worte aus den Berichten der jüdischen Zivilbevölkerung als sehr wertvolle Ausstellungsobjekte. Unser Ziel war es, diesen Worten eine materielle Form zu geben und darauf aufbauend das Design der Ausstellung zu gestalten. Wir haben Małgorzata Szczęśniak, eine bekannte polnische Bühnenbildnerin, eingeladen, das Erscheinungsbild der Ausstellung zu gestalten. Aus der Perspektive der Zivilbevölkerung zeigt die Ausstellung Schlüsselereignisse des Aufstands, Orte der Qualen und Verstecke. Die Kulisse vermittelt die Realität der Gefangenschaft: die Dunkelheit, den Mangel an Raum und Luft. Gleichzeitig spiegelt der von Małgorzata Szczęśniak und Saskia Hellmann gestaltete Raum auf bildhafte Weise die Gefühle und Emotionen der Menschen wider, die im Ghetto eingesperrt und im Untergrund versteckt waren.
Eine weitere wichtige Dimension der Ausstellung ist die von Paweł Mykietyn entwickelte musikalische Klangkulisse. Sie ist eine Schlüsselkomponente des Besuchererlebnisses, das Passagen aus Tagebüchern und Klänge umfasst, die von den in Zeugenaussagen beschriebenen Ereignissen inspiriert sind, die das einzige Zeichen für das sind, was sich über der Erde auf den Straßen des Ghettos abspielte.

Wie lange haben Sie und Ihr Team an der Gestaltung der Ausstellung gearbeitet? Was waren die größten Herausforderungen?

Wir haben vor fast zwei Jahren mit der Arbeit an der Ausstellung begonnen. Unser Ausgangspunkt war das Konzept, die Geschichte der jüdischen Zivilbevölkerung im Ghetto während des Aufstandes aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen. Unser Hauptmaterial waren ihre Zeugenaussagen. Die größte Herausforderung bestand darin, diese Inhalte in der visuellen Sprache und Gestaltung der Ausstellung zu präsentieren. Aus diesem Grund sind die von den persönlichen Berichten inspirierte Kulisse und Klanglandschaft die Schlüsselelemente der Ausstellung.
Eine weitere Schwierigkeit war das Fehlen von Bildmaterial und Gegenständen. Im Falle einiger unserer Protagonisten hatten wir nur ein paar Seiten ihrer Zeugnisse und sonst nichts. Unsere Arbeit umfasste nicht nur gründliche historische Recherchen, sondern auch die Suche und Kontaktaufnahme mit den Familien der in der Ausstellung vorgestellten Personen. Es gelang uns, Fotos und Dokumente aus ihren Familiensammlungen zu beschaffen.
Auf die gleiche Weise, durch die Suche und Kontaktaufnahme mit den Nachkommen, haben wir zwei einzigartige Fotoserien erhalten, die von Polen während des Aufstandes innerhalb und außerhalb des Ghettos aufgenommen wurden. Etwa ein eine Reihe von Fotos, die während des Aufstands im Warschauer Ghetto von Zbigniew Leszek Grzywaczewski, einem Warschauer Feuerwehrmann aufgenommen wurden. Die Fotos sind von unschätzbarem Wert. Es sind die einzigen uns bekannten Fotos, die während des Aufstandes im Ghetto aufgenommen wurden und deren Urheber nicht deutschen Täter sind. Mehrere Jahrzehnte nach dem Krieg fand Maciej Grzywaczewski, der Sohn von Zbigniew Leszek, die Negative. Er suchte auf unsere Bitte hin über ein halbes Jahr lang nach ihnen.
Weiteres neu entdecktes Material sind Fotos, die von der „arischen“ Seite der Ghettomauer aus aufgenommen wurden. Sie zeigen die Straßen von Warschau, die Ruinen und die Flammen über dem Ghetto. Auf einem der Bilder klettern mehr als ein Dutzend Menschen auf einen Ziegelhaufen, um das Ghetto zu betrachten. Die von Rudolf Damec aufgenommenen Fotos wurden 2019 von seiner Enkelin Aleksandra Sobiecka entdeckt. Im Januar 2023 brachte sie die Zeitzeugnisse ins POLIN Museum.

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