Drei Fragen an Christian Lindner, Bundesminister der Finanzen

„Verantwortung für nationalsozialistisches Unrecht tragen“ – was bedeutet das für Sie persönlich?

Die heutigen Generationen haben das nationalsozialistische Unrecht nicht begangen, es trifft sie keine Schuld. Aber was geschehen ist, muss uns eine immerwährende Mahnung sein, dass die schrecklichen Verbrechen der Nationalsozialisten nie wieder passieren dürfen. Mit jeder Zeitzeugin und jedem Zeitzeugen, die leider von uns gehen, wächst unsere eigene moralische Verantwortung, das NS-Unrecht in Erinnerung zu halten. Das wirksamste Mittel dazu ist, aktiv gegen das Vergessen zu kämpfen. Diese Erkenntnis und die Bereitschaft müssen wir schulen und stärken. Erst wenn das Ungeheuerliche des Nationalsozialismus in die Menschen eindringt, sinkt die Möglichkeit der Wiederholung – wie Theodor Adorno es formulierte.

In einer aktuellen Studie der Stiftung EVZ stimmt immerhin jede:r vierte Befragte der Aussage zu, es sei Zeit für einen „Schlussstrich“ unter der deutschen NS- Vergangenheit. Wie begegnet das BMF diesem Stimmungsbild vor dem Hintergrund seines formulierten Anspruchs „Verantwortung weitertragen“?

Einen Schlussstrich kann und wird es nicht geben. Was geschehen ist, ist unauslöschbarer Teil unserer deutschen Identität. Im Kampf gegen das Vergessen, das Verharmlosen und das Verleugnen braucht es daher eine weitere Aufarbeitung des NS-Unrechts und eine lebendige Bildungsarbeit. Das unterstützen wir als Bundesministerium der Finanzen auf vielen verschiedenen Wegen. Hierbei arbeiten wir eng mit der Stiftung EVZ und ausgewählten Projektträgern, aber auch mit anderen Institutionen wie der Jewish Claims Conference zusammen.

Leider beobachten wir in Deutschland mit großer Sorge, dass antisemitische und rassistische Straftaten auf der Straße, auf Schulhöfen und vor allem im Schutze der Anonymität des Internets weiter auf dem Vormarsch sind. Dies ist erschütternd und beschämend. Aber gerade deshalb müssen wir noch intensivere Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten, müssen uns noch aktiver gegen jede Form von Gewalt und Diskriminierung stellen und eben die Bedeutung unserer moralischen Verantwortung betonen und weitertragen.

Mit dem Ende der Zeitzeugenschaft braucht es neue Wege für Erinnerungsarbeit zu NS-Unrecht: Wie können wir künftigen Generationen die Lehren aus der NS-Vergangenheit vermitteln?

Dass immer mehr junge Menschen den Bezug zur NS-Zeit verlieren, ist erschreckend. Und genau deshalb gehört auch das zu unserer historischen Verantwortung: neue, zeitgemäße Formen des Wissenstransfers, des Erinnerns und des zivilgesellschaftlichen Engagements zu finden, um das Gedenken und das Wissen um das Geschehene lebendig zu halten. Zum Beispiel durch die Unterstützung einer modernen jugendgerechten Bildungsarbeit und Erinnerungskultur, mit der man auch neue didaktische und digitale Wege beschreitet. Und natürlich dürfen wir niemals aufhören, über die Grausamkeit und Menschenverachtung des Nationalsozialismus miteinander zu sprechen. Die Dialogbereitschaft bleibt unser wichtigster Wert.