Künstlerische Auseinandersetzung mit nationalsozialistischen „Euthanasie“- und Eugenikverbrechen
„... dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken der Gnadentod gewährt werden kann.“ – Ermächtigungsschreiben von Adolf Hitler, Oktober 1939
Der griechische Begriff „Euthanasie“ bedeutet übersetzt „schöner Tod“ – eine unsagbar euphemistische Beschreibung für den nationalsozialistischen Massenmord an mehr als 300.000 Menschen mit körperlichen, seelischen und geistigen Leiden in ganz Europa.
Ein Verbrechen, das in der breiten Öffentlichkeit noch heute kaum wahrgenommen wird: In der MEMO-Jugendstudie 2023 nannten weniger als die Hälfte der befragten jungen Erwachsenen kranke Menschen und Menschen mit Behinderungen als Gruppen, die in der NS-Zeit verfolgt und ermordet wurden.
Wie wird heute in Deutschland der NS-„Euthanasie“- Verbrechen und seiner Opfer gedacht? Wie wird an den historischen Orten an das Unrecht erinnert? Wir besuchen zwei Projekte der Bildungsagenda NS-Unrecht.
Paul Goesch: einer von 300.000
Wer im Sommer 2023 durch die gotische Altstadt von Brandenburg an der Havel läuft, trifft vielleicht auf die farbenfrohen Kunstwerke von Paul Goesch oder hört, wie sich die Bewohner:innen über die Malereien austauschen. Denn ein Projekt der Bildungsagenda NS-Unrecht hat es zum Stadtgespräch geschafft: Die Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde und das Stadtmuseum in Brandenburg an der Havel planen zusammen mit vielen verschiedenen Menschen aus der Brandenburger Stadtgesellschaft ein partizipatives Ausstellungsprojekt zum Leben und Werk des Künstlers. Bei Workshops und als sogenannte Citizen Curators können sich Interessierte am Projekt beteiligen und ihre Ideen einbringen. Die Ausstellung mit Originalwerken wird im Sommer 2024 im Stadtmuseum zu sehen sein.
Paul Goesch gilt als Visionär der Moderne. Seine Werke aus den 1910er- und 1920er-Jahren sind Beispiele für den avantgardistischen Expressionismus. Goesch war langjähriger Psychiatriepatient, da er an Schizophrenie erkrankte. Er ist einer von 300.000 Menschen, die im Nationalsozialismus als „lebensunwert“ erklärt und im Zuge der „Euthanasie“ ermordet wurden.
Wo genau? Eine Frage, die viele Brandenburger:innen auch nicht beantworten können. Viele kennen den Nicolaiplatz als einen belebten Verkehrsknotenpunkt, an dem Straßenbahnen fahren und wo der Parkplatz für das Bürgeramt liegt. Doch vor 83 Jahren, vom Februar bis zum Oktober 1940, töteten hier Ärzt:innen im Rahmen der „Aktion T4“ über 9.000 Menschen. Mit Bussen wurden Patient:innen aus Pflegeeinrichtungen und psychiatrischen Kliniken auf das Gelände des ehemaligen „Alten Zuchthauses“ am Nicolaiplatz gefahren, in eine Gaskammer geführt und dort ermordet. Einer von ihnen war Paul Goesch.
„Beredtes Schweigen“: juristische Fachsprache – eine vertragliche Vereinbarung, die Schweigen als Willenserklärung zulässt
Wer in Thüringen kennt die Geschichte der Gebäude der Universität Jena, des Klinikums Stadtroda, des ehemaligen Gesundheitsamts in Weimar oder der Landesheilanstalten in Blankenhain, Mühlhausen oder Hildburghausen? Wo in der eigenen Umgebung sind Orte der Eugenikverbrechen? Was ist dort geschehen?
Ein partizipatives Kunst- und Bildungsprojekt der Arbeitsgruppe Biologiedidaktik der Friedrich-Schiller-Universität Jena, des Vereins Lernort Weimar und des Weimarer Kulturorts „stellwerk junges theater“ macht mit Fassadenprojektionen fünf Täter:innenorte sichtbar und verankert sie in der regionalen Erinnerungskultur.
Die nationalsozialistische Rassenhygiene basierte auf der Eugenik, der Lehre von vermeintlich „guten“ Erbanlagen. Ziel war, das Erbgut der „eigenen Rasse“ zu verbessern. Menschen, die behindert oder dauerhaft krank waren, sowie Menschen mit einem „unerwünschten Lebenswandel“ sollten an der Fortpflanzung gehindert werden. 400.000 Frauen, Männer und Jugendliche wurden während des NS-Regimes zwangssterilisiert.
Die juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der nationalsozialistischen Eugenikverbrechen begann erst in den 1980er-Jahren. Das jahrzehntelange Leugnen und Verdrängen war für die Opfer, die oft aus Scham nicht über das Erlittene sprachen, traumatisierend. Gerichtsurteile, die Zwangssterilisierungen legitimierten, wurden erst 1998 aufgehoben. Einen Anspruch auf Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz haben Nachkommen von „Euthanasie“-Opfern und zwangssterilisierte Menschen bis heute nicht, Leistungen nach einer Härtefallregelung können aber beantragt werden.
Wer waren die Menschen, deren Lebenswege durch die NS-Eugenikverbrechen irreversibel geprägt wurden?
Das Jenaer Projekt macht die Lebenswege Betroffener aus der Region sichtbar und verknüpft dabei wissenschaftliche und künstlerische Formate.
In einer Graphic Novel und in einem Theaterstück erwachen die Menschen zum Leben und erzählen ihre Geschichte: Wie alt waren sie? Hatten sie einen Beruf? Warum wurden sie vom NS-Regime verfolgt?
Eine von ihnen ist Renate S., 1928 in Weimar geboren. Das Gesundheitsamt wird 1935 auf das taube Mädchen aufmerksam: Sie gilt als „nicht schulfähig“ und wird auf die Gehörlosenschule in Gotha geschickt. Das bedeutet, sie verlässt ihre Familie und lebt nun in der „Thüringer Taubstummen- und Blindenanstalt“.
Doch wird Renate noch oft umziehen müssen: zurück nach Weimar, in ein Heim in Bad Blankenburg, schließlich in die Landesheilanstalten Stadtroda. Anfang Dezember 1941 sieht die Mutter ihre Tochter ein letztes Mal in Stadtroda und berichtet: „Der Anblick des Kindes war schrecklich. Sie war steif und bewusstlos. Der Körper des Kindes war blau, grün und blutunterlaufen. An dem Körper waren viele Stiche sichtbar.“ Am 6. Dezember 1941 stirbt Renate mutmaßlich an einer Pneumonie – eine für den NS-Krankenmord typische Diagnose, die darauf hinweist, dass ihr eine Überdosis von Betäubungsmitteln verabreicht wurde.
Im Hier und Jetzt setzen sich Schüler:innen mit nationalsozialistischen Eugenik- und „Euthanasie“-Verbrechen auseinander und stellen Bezüge zu ihrer Gegenwart her: Auf welchen ethischen Grundlagen beruht ein gutes Zusammenleben? Und wie gehen wir heute als Gesellschaft mit Menschen um, die nicht oder anders leistungsfähig sind?
„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ - Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Artikel 1
Zwei Projekte, die beispielhaft dafür stehen, wie durch eine geschichtsbewusste Vermittlung der nationalsozialistischen Verbrechen und die Sichtbarmachung der Geschichten der Betroffenen demokratische Haltungen im Heute gestärkt werden können.
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Zur Projektseite „Beredtes Schweigen“
Autorin: Sophie Ziegler