Dr. Wolfgang Niess argumentiert in seinem Gastbeitrag dafür, dass der 9. November ein nationaler Gedenktag werden soll, denn dies könne von herausragender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland sein. Prof. Dr. Thomas Weber schreibt in seinem Gastbeitrag hingegen, dass nicht der 9. November, sondern andere Tage nationale Gedenktage werden sollten.

Gastkommentar von Wolfgang Niess: Der 9. November sollte „Nationaler Gedenktag“ werden

Die Demokratie als Staatsform steht unter Druck. Das pfeifen inzwischen die Spatzen von den Dächern. Auch wir in Deutschland müssen feststellen, dass die freiheitliche demokratische Ordnung unserer Republik keineswegs für jeden selbstverständlich ist, der hierzulande lebt. Viel zu lange haben wir uns in Sicherheit gewiegt, haben historische und politische Bildung vernachlässigt, haben demokratische Traditionen verkümmern lassen. In Teilen unserer Gesellschaft ist dabei nach und nach das Bewusstsein für die Bedeutung von Demokratie abhandengekommen, und auch das Wissen über die harten Auseinandersetzungen, in denen sie im Verlauf unserer Geschichte erkämpft werden musste.

In Politik und Zivilgesellschaft ist inzwischen mitunter erkannt worden, dass allein die intensive und überaus verdienstvolle kritische Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Diktatur nicht ausreicht, um demokratisches Bewusstsein zu begründen. Es sind eine Arbeitsgemeinschaft und eine Stiftung entstanden, deren Ziel es ist, „Orte der Demokratiegeschichte“ zu benennen und in unserer Erinnerungskultur zu verankern. Auch auf „100 Köpfe der Demokratie“ soll aufmerksam gemacht werden. In Weimar hat ein „Haus der Weimarer Republik“ seine Arbeit aufgenommen, das die erste deutsche Demokratie als Aufbruch in eine neue Zeit ernst nimmt und nicht mehr nur als Vorgeschichte des NS-Regimes abtut.

9. November: Herausragendes historisches Datum

Ergänzend zu diesen und anderen Initiativen schlage ich vor, den 9. November zu einem „Nationalen Gedenktag“ zu machen. Der 9. November ist wie kein anderes Datum geeignet, den langen, von furchtbaren Rückfällen in die Barbarei unterbrochenen, schließlich aber doch erfolgreichen Kampf um die Demokratie in Deutschland anschaulich und nachvollziehbar zu machen. Im 20. Jahrhundert markiert der 9. November wichtige Wegmarken:
- 1918 siegt in Berlin die Novemberrevolution, die Republik wird ausgerufen und es beginnt der Aufbau der ersten deutschen Demokratie.
- 1923 versucht Hitler in München einen Staatsstreich und durchkreuzt damit die Pläne der bayerischen Machtelite, die demokratische Ordnung zu beseitigen und in Berlin eine „nationale Diktatur“ zu errichten.
- 1938 werden in den Novemberpogromen Synagogen in Flammen gesteckt, jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, Juden misshandelt und getötet.
- 1939 versucht Georg Elser mit einem Bombenattentat Hitler zu töten.
- 1989 siegt die friedliche Revolution in der DDR, die Mauer fällt und der demokratische Aufbruch führt zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten.

Aufgrund seiner herausragenden Bedeutung als historisches Datum war der 9. November immer wieder als Nationalfeiertag im Gespräch. Nach 1918 scheiterten Initiativen am Widerstand der politischen Rechten und am zwiespältigen Verhältnis bürgerlicher Parteien zur Revolution, die der Demokratie zum Sieg verholfen hatte. 1990 überwog die Sorge, die Freude über den Fall der Mauer könne die Erinnerung an die Novemberpogrome in den Hintergrund drängen.

Der 9. November kann in der Tat kein Tag des ungebrochenen Jubels sein, er soll vielmehr ein Tag des Gedenkens werden. Er ist „ein ambivalenter Tag, ein heller und ein dunkler Tag“ (Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier). Er eignet sich nicht für einfache Antworten und erst recht nicht für vordergründige identitätspolitische Vereinnahmung. In ihm spiegelt sich die deutsche Geschichte mit all ihren Widersprüchen und gegenläufigen Entwicklungen. Er lässt sich nicht verdichten auf die eine „Wahrheit“. Genau darin liegt seine Stärke als Gedenktag.

Geschichten vom Kampf um die Demokratie und schrecklichen Abgründen

An diesem Gedenktag könnten viele Geschichten vom Kampf um die Demokratie, von den schrecklichen Abgründen des Nationalismus, des Rassismus und des Antisemitismus erzählt werden, auch Geschichten vom Widerstand in der Diktatur, Geschichten über die Gleichstellung der Frau in der deutschen Gesellschaft. Der 9. November als Gedenktag könnte mit all diesen Geschichten Jahr für Jahr deutlich machen, was Demokratie in Deutschland bedeutet, wofür Demokraten stehen und wogegen sie kämpfen. Er könnte jährlich zur Selbstvergewisserung der gesamten deutschen Gesellschaft beitragen.

Die Position der Ostdeutschen wäre dabei ganz selbstverständlich neu definiert, denn nicht nur in der Friedlichen Revolution 1989, sondern auch in der Novemberrevolution 1918 spielten die Revolutionäre in Berlin, Leipzig und anderen Städten des jetzt ostdeutschen Raums eine entscheidende Rolle. Der 9. November könnte mehr als jeder andere Tag des Jahres zum integrierenden Gedenktag werden. Das gilt auch für Deutschland als Einwanderungsland. Gedenkfeiern zum 9. November könnten als Visitenkarte der deutschen Nation für all diejenigen dienen, die als Zuwanderer ins Land kommen. Sie könnten Jahr für Jahr zeigen, wofür Deutschland steht, worauf jeder sich freuen darf, worauf aber auch jeder sich einzustellen hat, der hier seine neue Heimat sieht. Der 9. November als jährliches Bekenntnis zu den Grundwerten unserer Verfassung könnte beispielsweise unmissverständlich klar machen, dass Antisemitismus in Deutschland niemals geduldet werden wird, oder dass die Gleichstellung der Frau in Deutschland unumstößliche Grundlage der Gesellschaft ist.

Förderung der demokratischen Sozialisation

Der 9. November als Gedenktag wäre auch eine zusätzliche Förderung der demokratischen Sozialisation der jungen Generationen. Gelebte demokratische Traditionen und immer wieder erneuerte historische Erfahrungen könnten deutlich machen, dass Demokratie sich nicht als Hängematte eignet. Demokratie ist kein Geschenk. Sie muss sowohl erkämpft als auch verteidigt werden, denn sie kann durchaus wieder verloren gehen. Die Zerstörung der ersten deutschen Republik hat viele Millionen von Menschen das Leben gekostet. Es gilt den Anfängen zu wehren. Der 9. November kann mehr als jeder andere Tag republikanische Leidenschaft fördern.

Ein erster Anstoß in diese Richtung kam schon im Juni 2009 von der Kultusministerkonferenz. Im Rahmen einer Vereinbarung zur Stärkung der Demokratieerziehung empfahl das Gremium, an allen Schulen jährlich am 9. November einen Projekttag zur Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert durchzuführen. Es wäre ein deutlicher Fortschritt, wenn diese Empfehlung tatsächlich in der großen Mehrheit der deutschen Schulen umgesetzt würde.

Nachdenken über die deutsche Geschichte angemessenen Stellenwert geben

Andere Institutionen, die der politischen Bildung und der demokratischen Aufklärung verpflichtet sind, könnten sich dem Gedanken anschließen, jährlich am 9. November Veranstaltungen durchzuführen, Artikel zu veröffentlichen, Sendungen auszustrahlen, Content ins Netz zu stellen – und so regelmäßig die deutsche Demokratiegeschichte in all ihren Facetten zum Thema machen. Die politischen Repräsentanten der Republik könnten jährlich am 9. November diesen besonderen Tag der deutschen Geschichte würdigen – beispielsweise so, wie das 2018 und 2019 geschehen ist. Damit würde dem Nachdenken über die deutsche Geschichte ein angemessener Stellenwert gegeben.

Wenn schließlich der 9. November zum „Nationalen Gedenktag“ erklärt würde – so wie schon der 27. Januar als „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ und der 17. Juni als „Nationaler Gedenktag des deutschen Volkes“ proklamiert wurden – wäre dies ein starkes Signal, dass der 9. November ein besonderer Tag in der deutschen Geschichte ist – und das jährliche Gedenken an diesem Tag von herausragender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland.

 

 

 

Gastkommentar von Thomas Weber: Nicht der 9. November, sondern andere Tage sollten „Nationale Gedenktage“ werden

Die Pogromnacht des Jahres 1938, der Fall der Mauer, der gescheiterte Hitlerputsch, die Revolution des Jahres 1918 – sie alle fielen auf einen 9. November. Jedes einzelne dieser Ereignisse verdient nicht nur Erinnerung, sondern birgt Handlungsanweisungen an uns alle für die Gestaltung einer besseren Zukunft. Aber eine Verkettung dieser Ereignisse als Grundlage eines neuen offiziellen deutschen Nationalen Gedenktages wäre unverantwortlich. Denn ein solcher Nationaler Gedenktag würde, wie ich zusammen mit der Historikerin Heidi Tworek dargestellt habe auf einem Narrativ der NS-Propaganda aufbauen.

NS-Propaganda nicht einfach auf den Kopf stellen

Schon in den 1920er Jahren bezeichnete Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg den 9. November als „Schicksalstag“. In seiner von Joseph Goebbels‘ Propagandisten geschaffenen Endform bestand er aus einer Aneinanderreihung der 9. November der Jahre 1918, 1923 und 1938. Die NS-Propaganda schuf ein Schicksalstagsnarrativ, welches die Symbolkraft der 9. November dieser drei Jahre benutzte, um für ein Deutschland zu mobilisieren, das den 9. November 1918 ungeschehen machen würde. Das Schicksalstagnarrativ hatte zum Ziel, Millionen dazu zu inspirieren, ihr Leben und Handeln in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen. Das 9. November-Schicksalstagnarrativ half, die Idee von Vernichtungskrieg und Genozid in die Wirklichkeit umzusetzen.

Seit den neunziger Jahren gibt es in der politischen Bildung Deutschlands ein neues und ehrenhaftes Schicksalstagsnarrativ, der die gleichen 9. November, erweitert um den Fall der Mauer, verbindet. Diesmal ist das Ziel, die 9. November der deutschen Geschichte kritisch aufzuarbeiten, um eine Zukunft in Freiheit und Demokratie zu sichern. Das Ziel und die Intentionen stimmen. Aber wollen wir wirklich in Deutschland Zukunft gestalten, in dem wir Joseph Goebbels‘ Propaganda einfach auf den Kopf stellen und in Form eines Nationalen Gedenktages kodifizieren?

Nationaler Gedenktag sollte jedes Jahr auf einen anderen Tag fallen

Deutschland braucht dennoch dringend einen neuen Nationalen Gedenktag, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet: ein Gedenktag, der die Res Publica – das Gemeinwohl – erneuert, zu einer Zeit, in der Deutschland und die Welt am Scheideweg stehen. Ein Gedenktag, der mehr ist als eine angemessene Tapete, die einen wohlig umgibt, die man aber nicht mehr wahrnimmt; ein Gedenktag, der aufwühlt, der würdevoll ist, aber gleichermaßen so aufregend ist, dass er auch an den restlichen Tagen des Jahres unser Handeln verändert und inspiriert. Dieser Nationale Gedenktag sollte nicht auf den 9. November, sondern jedes Jahr auf einen anderen Tag fallen. Er sollte an Ereignisse der Vergangenheit erinnern, die unverdient eher unbekannt sind und uns so sehr inspirieren können, dass wir aus unseren bequemen Sesseln aufspringen, um unsere eigene Welt zu erneuern.

Wie schon Überlebende und ihre Angehörigen in den neuen Gerichtsprozessen der letzten Jahre gegen Konzentrations- und Vernichtungslagerpersonal oft gesagt haben, geht es ihnen nicht in erster Linie um eine Verurteilung der Angeklagten. Viel mehr geht es darum, die öffentliche Aufmerksamkeit auf unaufgearbeitete und unbekannte Vergangenheit zu lenken. Ein neuer Nationaler Gedenktag könnte dieses Ziel eher als Prozesse gegen Greise erreichen. Jedes Jahr würde ein anderer Fall unaufgearbeiteter oder unbekannter Vergangenheit im Mittelpunkt stehen.

Schulen, Medien, Politiker und die gesamte Zivilgesellschaft hätten jeweils etwa ein Jahr Zeit, sich auf den nächsten Gedenktag vorzubereiten. Dieser ständige Tapetenwechsel würde sicherstellen, dass das Gedenken an die Opfer der Vergangenheit nie Gefahr liefe, zum leeren Ritual zu werden. Idealerweise würden Fälle ausgewählt werden, die neue und unerwartete Inspiration für die Neugestaltung des Gemeinwohls und des nationalen und internationalen Miteinanders bereithalten.

Erster Gedenktag: Jahrestag der Razzia von Putten

Ein gutes Datum für einen solchen neuen Nationalen Gedenkjahr wäre in seinem ersten Jahr der 2. Oktober 2024, der 80. Jahrestag der Razzia von Putten. Nach einem Anschlag auf Wehrmachtsoffiziere außerhalb des niederländischen Dorfes, hatten die Deutschen am 2. Oktober 1944 die Dorfbewohner zusammengetrieben und einen Teil des Dorfes abgebrannt. Die Männer des Dorfes wurden in deutsche Konzentrationslager deportiert. Nur 10 Prozent von ihnen überlebten den Krieg. Es war eine Strafaktion, wie sie auch im französischen Oradour, im tschechischen Lidice und in unzähligen unbekannten Dörfern des Ostens stattfand. Die Opfer jeder dieser Fälle verdienen mehr Erinnerung, aber der 80. Jahrestag der Razzia von Putten bietet sich besonders an als das erste Datum eines solchen neuen Nationalen Gedenktags. Denn was in den fünfziger Jahren in dem Dorf in Gelderland passierte, würde uns wie kaum etwas anderes Inspiration dafür bieten, wie eine dunkle Vergangenheit Grundlage für Versöhnung und die Gestaltung einer besseren Zukunft sein kann.

Viele der Männer des Dorfes waren in einem Außenlager des Konzentrationslager Neuengamme im schleswig-holsteinischen Ladelund umgekommen. Nachdem der Pfarrer Ladelunds 1946 an das Dorf der Witwen und ihre Söhne betrauernden Mütter mit Informationen über die Gräber ihrer Angehörigen geschrieben hatte, entspannen sich bald  zaghafte Kontakte zwischen den beiden Dörfern, die ähnlich protestantisch ländlich geprägt waren. Sie gipfelten darin, dass die Bewohner Ladelunds die Bewohner Puttens um Vergebung baten. Nicht zuletzt dadurch kam es zwischen den beiden Dörfern schon in den fünfziger Jahren zu Versöhnung, während anderswo häufig dreißig weitere Jahre ins Land gehen sollten bis dort ähnliches geschah.

Frage nach den Erfolgsfaktoren des Überwindens von Hass

In Zeiten eskalierender Polarisierung innerhalb unserer Gesellschaft und neuer Konflikte weltweit wäre der Blick deutscher Schülerinnen und Schülern auf den Fall Putten mehr als lohnenswert. Er würde ihnen erlauben nicht nur zu fragen, wieso dort dreißig Jahre früher als anderswo Versöhnung möglich war, sondern auch was die Erfolgsfaktoren des Überwindens von Hass und neuen Zusammenlebens sind. Daraus würden sich Handlungsanweisungen ableiten, wie Vertrauen wiederhergestellt werden kann und ein neues Narrativ entstehen dazu, was uns alle verbindet, was wir ineinander investieren müssen und was unser Gemeinwohl ausmacht. Auch würde uns der Fall zum Nachdenken darüber bringen, welche Rolle religiöse Werte, Überzeugungen und Institutionen als Grundlage des Gemeinwesens und der Politik auch in säkularen Staaten spielen können und sollten.

Und der 80. Jahrestag der Razzia von Putten wäre ein perfekter Zeitpunkt für die Bundesrepublik Deutschland, die Nachkommen der Witwen und Mütter von Putten – symbolisiert durch die Vrouw van Putten, die Statue einer Frau, die bis auf einen alle ihrer Söhne als Folge der Razzia verlor, und einem vom Enkel der Frau konzipierten Museums- und Gedenkort –  , zu ehren und ihnen zu danken. Denn sie haben die Erinnerung an die Schrecken der Razzia und die Versöhnung mit den Deutschen zu ihrem Lebenswerk gemacht. Für künftige Jahre gibt es viele ähnlich bewegende und überzeugende Fälle, die in gleichen Maßen unter die Haut gehen und Erinnerung, Verantwortung und Zukunft verbinden – besser als dies ein Schicksalsnarrativ zum 9. November jemals vermag.