Die Entdeckung zahlreicher Zwangsarbeiter:innen-Briefe in ukrainischen Archiven begann mit einer Familiengeschichte und einem Geheimnis. Die drei Strojewa-Schwestern wurden 1943 aus einer einfachen Dorfhütte in Kalyniwka im Kreis Makariw unweit von Kyjiw nach Deutschland verschleppt, um in einer Waggonfabrik in Gotha, Thüringen, Zwangsarbeit zu leisten. 

Der Historiker und seine Familiengeschichte

Die Entdeckung zahlreicher Zwangsarbeiter:innen-Briefe in ukrainischen Archiven begann mit einer Familiengeschichte und einem Geheimnis. Die drei Strojewa-Schwestern wurden 1943 aus einer einfachen Dorfhütte in Kalyniwka im Kreis Makariw unweit von Kyjiw nach Deutschland verschleppt, um in einer Waggonfabrik in Gotha, Thüringen, Zwangsarbeit zu leisten.

Nonna, die 1922 geborene älteste der drei Schwestern, kehrte nach dem Krieg zwar nach Hause zurück, überlebte jedoch keine sechs Monate, nachdem sie in Deutschland an Tuberkulose erkrankt war. Tamara, die mittlere Schwester, 1925, kehrte nie aus Deutschland zurück, was aus ihr wurde, war nicht bekannt. Und Josephina, geboren 1927, lebte bis in die 2000er Jahre – die Zwangsarbeit oder ihre verschwundene Schwester Tamara erwähnte sie jedoch nie. Doch ohne ihren Großneffen Witali hätte niemand vom Schicksal einer der Schwestern erfahren.

Witali Geds, studierter Historiker und Spezialist für den Zweiten Weltkrieg, bekam von seiner Großmutter nach der Verteidigung seiner Dissertation über die Besetzung Kyjiws zu hören: „Du bist doch Experte, hör dich doch mal um, ob du etwas über meine Schwestern herausfindest.“ Und so begann er zu suchen. In einer Monographie las er, dass in den Archiven des Verwaltungsgebiets Kyjiw Briefe von „Ostarbeitern“ lagern.

„Ich erinnere mich bis heute: Bestand 4826, Beschreibung 1, Akte 286. Und gleich das erste Bündel mit Briefen stammt aus meinem Heimatdorf Kalyniwka im Kreis Makariw. Und der erste Brief ganz oben auf dem Stapel ist ein Brief meiner Großmutter Tamara, die nie aus Deutschland zurückgekehrt ist, mit einem Bild der drei Schwestern bei der Arbeit“, erinnert sich Witali. „Tamara schrieb darin, sie habe eine Beziehung mit einem Franzosen, dass sie heiraten und nach Frankreich gehen wolle.“

So erfuhr die Familie zum ersten Mal, dass die Schwester Tamara gar nicht bei der Zwangsarbeit ums Leben gekommen war und dass sie womöglich irgendwo in Frankreich Verwandte haben.

Dort, im Archiv, fand Witali auch die sogenannte "Filtrationsakte" einer der anderen Schwestern, Josephine, und verstand nun, warum sie nie über ihre Jahre in Deutschland sprechen wollte. Bis zu Stalins Tod im Jahr 1953 wurde sie alle sechs Monate zum Verhör geladen und zu ihren Schwestern befragt.

Witali brachte seiner Mutter eine Kopie von Tamaras Brief mit. Ihre Reaktion fiel ungewöhnlich heftig aus: Sie weinte beim Betrachten der Bilder ihrer Tanten, von denen sie zwei noch nie gesehen hatte, überwältigt von Erinnerungen. Als sie erfuhr, dass im Archiv noch zehn weitere Briefe aus ihrem Dorf liegen, sagte sie: „Ich habe diesen Brief bekommen, warum sollten andere nicht auch ihre Briefe erhalten?“ Und so begann Witali, die Briefe in seinem Dorf zuzustellen. Briefe von „Ostarbeitern“, die seit mehr als siebzig Jahren in den Archiven gelegen hatten.

„OSTARBEITER“

Der nationalsozialistische „Ausländereinsatz“ zwischen 1939-1945 war der größte massenhafte Einsatz von Ausländern in der Wirtschaft eines einzelnen Landes seit den Zeiten der Sklaverei.

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs arbeiteten etwa 13,5 Millionen Menschen aus 26 europäischen Ländern auf dem Gebiet des nationalsozialistischen Deutschlands, seiner Verbündeten und in den von Deutschland besetzten Ländern. Davon waren 4,5 Millionen Kriegsgefangene und 8,5 Millionen Zivilarbeiter:innen und Häftlinge aus Konzentrationslagern.

Die größte Gruppe von Zwangsarbeiter:innen waren Bewohner der besetzten Gebiete der UdSSR, die „Ostarbeiter" genannt wurden. Die meisten von ihnen wurden zwischen 1942 und 1944 unter Anwendung brutaler Gewalt aus der heutigen Ukraine ins Reich verschleppt.

Die meisten der „Ostarbeiter“ waren sehr jung: Sie waren im Schnitt zwischen 20 und 24 Jahre alt, ein Drittel von ihnen hatte die dreißig Jahre noch nicht erreicht. Es gibt etliche Berichte über Kinder im Alter von 13-14 Jahren, die in den Listen der Arbeitskräfte als „arbeitsfähig“ eingestuft wurden.

„Sie wurden wie Sklaven und noch schlimmer behandelt“, so die Historikerin Tetyana Pastuschenko. „Schlechte Lebensbedingungen, unzureichende Ernährung, harte Arbeit, katastrophale hygienische und sanitäre Verhältnisse in den Lagern führten dazu, dass bei den ‚Ostarbeitern‘ im Vergleich zu Arbeitern aus anderen Ländern die meisten Verletzungen und Todesfälle zu verzeichnen waren. Frauen wurden oft sexuell missbraucht.“

Die Überlebenschancen der Arbeiter:innen hingen davon ab, wo sie eingesetzt wurden: in der staatlichen Produktion, wo die Arbeitsbedingungen am härtesten waren, oder bei einem Bauern, wo es leichter war durchzukommen.

Nach Ende der Kampfhandlungen in Europa saßen die meisten Zwangsarbeiter aus dem Osten in Vertriebenenlagern fest. Statt medizinische Versorgung und materielle Hilfe zu erhalten, waren Millionen Menschen gezwungen, die politische Filtration durch die Spionageabwehrdienste NKWD, NKGB und SMERSH zu durchlaufen. Nach dieser Überprüfung kehrten nur 58 Prozent der Rückkehrer zu ihren Familien zurück. 19 Prozent wurden sofort in die Rote Armee eingezogen, 14 Prozent kamen in so genannte „Arbeitsbataillone“ und 6,5 Prozent wurden von den Einheiten des NKWD als Volksfeinde verhaftet.

1946 erklärte der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg die nationalsozialistische Praxis der Zwangsarbeit von Ausländern zu einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Doch solange die Sowjetunion existierte, galten die so genannten „Ostarbeiter“ als "unzuverlässig". Deshalb sprachen viele von ihnen nicht über ihre Vergangenheit. Erst Ende der 1980er Jahre änderte sich die Lage radikal, als in der Presse erste Artikel über ehemalige „Ostarbeiter“ und KZ-Häftlinge erschienen. Die humanitären Zahlungen der deutschen Bundesregierung an ehemalige „Ostarbeiter“ und der damit verbundene öffentliche Diskurs in der ukrainischen Gesellschaft trugen maßgeblich dazu bei, diesen Prozess zu beschleunigen.

Wie kamen die Briefe in die Archive?

Im November 1943 befreiten sowjetische Truppen Kyjiw, und der NKWD ließ umgehend sämtliche Briefe aus Deutschland in den Postämtern beschlagnahmen. Alle Briefe, die aus Deutschland kamen, „zierte“ das NS-Wappen oder ein Porträt von Hitler. Wie die fett geschwärzten Abschnitte oder die Stempel mit den Buchstaben „Ab“ zeigen, wurden diese Briefe von den Nazi-Zensoren kontrolliert.

Es galt die Anweisung, sie den Angehörigen nicht zuzustellen. Bei Kriegsende ordnete der NKWD an, diese Briefe in Säcken zur geheimen Aufbewahrung in die Archive Kyjiws zu überstellen, um sie mit der Zeit zu verbrennen.

Der „Geheim“-Vermerk wurde nach der Perestroika von den Briefen entfernt. Im Jahr 2018 endete die 75-jährige Geheimhaltung und Witali Geds und andere Geschichtsforscher hatten nun die Möglichkeit, die Briefe zu kopieren und an die Adressaten oder deren Erben weiterzugeben.

Von 50.000 nicht zugestellten Briefen von Zwangsarbeitern im Archiv des Gebiets Kyjiw konnte Witali inzwischen rund 3.000 zustellen. Unterstützt wird er dabei von Dorfvorsteher:innen, Priestern, Bibliothekar:innen, Lehrenden und Freiwilligen, die nach Angehörigen der Briefeschreiber:innen suchen.

Viel geschafft und noch viel vor

  • 3.000

    von 50.000 in der Region Kyjiw nicht-zugestellten Briefen konnten inzwischen übergeben werden

Briefträger der Geschichte

Im Dezember 2021 steigt Witali in seinen alten Kia und fährt ins Nachbardorf Nebelyzja. Am Tor ihres Hauses kommt ihm Lesya Kulinska, die auf ihren Brief wartet, schon aufgeregt entgegen.

„Einmal war ich mit Witali auf einem Ausflug in Lwiw und zeigte ihm ein Bild meiner Mutter, das ich im Portemonnaie mit mir herumtrage. Später schickte er eine Liste mit Briefen für unser Dorf“, berichtet Lesya. „Ich sah nach, und da stand der Nachname meines Großvaters, für ihn gab es einen Brief meiner Mutter Katerina Fedorenko. Ich war schockiert: Wie konnte das sein? Zumal all diese Menschen nicht mehr am Leben waren.“

Lesya schaut sich den kurzen Brief an, liest ihn, bittet Witali ins Haus und beginnt sich zu erinnern, zeigt ihm Bilder und erzählt Geschichten. Sie wird den Brief nun als Erbstück für ihre Enkelkinder aufbewahren.

Am schönsten sind für Witali die Begegnungen mit Angehörigen, die sehnsüchtig auf einen Brief warten und sich darauf freuen. Von den 3.000 Briefen, die er bereits zustellen konnte, gingen fünf Briefe an Personen, die diese Briefe selbst geschrieben hatten.

„Ich bin immer noch bewegt, wenn ich an ein Treffen in der Stadt Jahotyn zurückdenke, wo ich der hundertjährigen Maria Garkawenko zu ihrem Geburtstag einen Brief überbrachte. Die ganze Familie hatte sich versammelt, sie wussten, dass wir kommen würden. ‚Dann lesen Sie uns den Brief mal vor.‘ Ich beginne also zu lesen, die Frau unterbricht mich und zitiert Wort für Wort den Brief, den sie vor 77 Jahren geschrieben hat. Ihr Sohn sagte, sie wisse nicht mehr, was sie am Tag zuvor gemacht habe, an den Brief erinnere sie sich aber Wort für Wort.“

Eines Tages entdeckte Witali 25 Briefe von einer Person: Nadja Kowbuschtschenko. Das ist sehr viel, durften Zwangsarbeiter:innen in Nazi-Deutschland doch im Schnitt nur alle zwei Wochen einen Brief schreiben.

Die nicht zugestellten Briefe führten sogar zu einem Familienzwist, wie sich herausstellte. Nach dem Krieg zerstritten sich Bruder und Schwester so sehr, dass sie mehrere Jahre lang nicht mehr miteinander sprachen. Der Bruder warf Nadja vor, nicht geschrieben und sich nicht für das Schicksal der Familie interessiert zu haben. Nadja hielt daran fest, geschrieben zu haben. Leider kam der Beweis dafür zu spät, zu einer Zeit, als weder Bruder noch Schwester noch am Leben waren. 

Die Archive heute

Witali hat sich inzwischen an alle Gebietsarchive in der Ukraine gewandt und herausgefunden, dass dort ebenfalls Tausende solcher Briefe lagern – grob geschätzt insgesamt rund 200.000. Sie sind noch nicht vollständig erforscht oder systematisiert.

In einigen ukrainischen Archiven finden sich neben Briefen von Zwangsarbeiter:innen auch Briefe von deutschen Soldaten, die die Nazi-Truppen auf dem Rückzug nicht mehr rechtzeitig vernichten konnten. Auch das sind Briefe, die unterwegs liegen geblieben sind und ihre Adressaten nie erreichten.

Inzwischen beteiligen sich auch andere Historiker:innen an dieser Arbeit, sie wollen dafür sorgen, dass alle Briefe ihre Adressaten erreichen. Oder wenigstens deren Kinder und Enkelkinder. Darüber hinaus träumen Witali und seine Kollegen davon, eine elektronische Datenbank der Zwangsarbeiter:innen aufzubauen, in der alle Informationen aus den Archiven mit Fotos, Briefen und Filtrationsakten gespeichert werden sollen.

Witali Geds

Wenn man in die Augen der Menschen schaut, die Briefe aus der Vergangenheit erhalten haben begreift man, dass es Menschen gibt, für die diese Arbeit sehr wichtig ist. Und solange diese Arbeit gebraucht wird, machen wir weiter.
Witali Geds
Historiker
Zur Listenansicht