Martín Valdés-Stauber von den Münchner Kammerspielen, Dr. Elke Gryglewski von der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und Nicole Broder von der Bildungsstätte Anne Frank haben gemeinsam mit EVZ-Vorständin Dr. Andrea Despot über Antisemitismus in der Arbeitswelt, die Notwendigkeit von berufsgruppenspezifischen Bildungsangeboten und die eigene Rolle diskutiert. Mit ihren Projekten, die im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht gefördert werden, beschreiten sie ganz eigene Wege der historisch-politischen Bildungsarbeit.

Manchmal sind es die scheinbar beiläufigsten Aussagen, die ein Problem von gesamtgesellschaftlicher Tragweite zum Ausdruck bringen: „Antisemitismus? Gibt es bei uns nicht!“ – unter diesem Titel hat die Stiftung EVZ Ende April drei Akteur:innen der historisch-politischen Bildungsarbeit zur Podiumsdiskussion geladen, denen diese Aussage bei ihrer Arbeit in der ein oder anderen Form schon begegnet sein dürfte: Martín Valdés-Stauber von den Münchner Kammerspielen, Dr. Elke Gryglewski von der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten und Nicole Broder von der Bildungsstätte Anne Frank haben gemeinsam mit EVZ-Vorständin Dr. Andrea Despot über Antisemitismus in der Arbeitswelt und die Notwendigkeit von berufsgruppenspezifischen Bildungsangeboten zur Antisemitismusbekämpfung diskutiert. 

Damit hat die Stiftung EVZ drei Expert:innen auf die virtuelle Bühne geholt, die aus ihrer eigenen Arbeitspraxis wissen, wovon sie reden: Sie alle setzen derzeit Projekte im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht um, die darauf abzielen, demokratische Haltungen zu stärken und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenzuwirken - durch den Transfer von Wissen und Interventionskompetenzen an bestimmte Berufsgruppen oder Bildungsangebote in kulturellen Räumen. Konkret bedeutet das: Sie geben Workshops und Seminare für Mitarbeiter:innen aus der Verwaltung, Polizei und Justiz oder holen das Thema auf die Theaterbühne. Gefördert werden sie dabei vom Bundesministerium der Finanzen (BMF) und der Stiftung EVZ.

Struktureller Bedarf

Dass es nach wie vor einen hohen Bedarf an historisch-politischen Bildungsangeboten gibt, zeigen nicht nur steigende antisemitisch motivierte Straftaten oder Parolen und Symbole auf Querdenker:innen-Demonstrationen. Nicole Broder etwa stellt in ihren Seminaren immer wieder fest, dass es unter den Teilnehmenden mittlerweile zwar ein Bewusstsein für das Thema Rassismus gebe, das Thema Antisemitismus, seine strukturellen Aspekte und tradierten Bilder allerdings weniger stark wahrgenommen würde – gemäß der Aussage „Antisemitismus? Gibt es bei uns nicht!“. Insgesamt seien diese Themen aber in den Verwaltungen angekommen: „Anfangs waren die Anfragen für unsere Workshops sehr anlassbezogen, etwa nach Vorfällen wie rassistischen oder antisemitischen Äußerungen in Chat-Gruppen oder am Mittagstisch. Mittlerweile wird der Bedarf aber struktureller gesehen, auch wenn die anlassbedingte Nachfrage noch überwiegt.“

Neben der Notwendigkeit historisch-politischer Bildungsarbeit bewerteten die Podiumsteilnehmer:innen auch die eigene Rolle kritisch. Elke Gryglewski etwa sieht Gedenkstätten in der Pflicht, selbst aktiver zu werden und Themen zu setzen: „Wir stehen als Institutionen in der Verantwortung, auch einen Bedarf an historischen Bildungsangeboten zu formulieren. Wenn wir es schaffen, einen Aha-Effekt bei Berufsgruppen auszulösen, weil sie realisieren, dass sich bestimmte bürokratische Abläufe aus der NS-Zeit nicht von heutigen unterscheiden, dann befördern wir auch die Bereitschaft, sich mit Kontinuitätslinien des Antisemitismus auseinanderzusetzen.“ 

Vom Potenzial der eigenen Erfahrung hält auch Martín Valdés-Stauber in seiner künstlerischen Arbeit viel: Reflektiere man über eigene Diskriminierungserfahrungen, so begreife man auch, wie strukturelle Ausgrenzung in einer Gesellschaft funktioniere und wie sie sich bekämpfen lasse. Auch Martín Valdés-Stauber, der aktuell die Schicksale von verfolgten Mitarbeitenden der Münchner Kammerspiele während des NS aufarbeitet, mahnt: „Es gibt einen Widerspruch zwischen der künstlerischen Beschäftigung mit dem Thema Rassismus und Antisemitismus auf der einen, und der konkreten Realität des Theaterbetriebs auf der anderen Seite. Theater sind große Einrichtungen, in denen es eben auch Formen der Ausgrenzung, des Rassismus und Antisemitismus gibt. Wir müssten selbstkritischer mit der eigenen Arbeitsweise werden.“ 

So dürfte manch eine:r nach der Podiumsdiskussion „Antisemitismus? Gibt es bei uns nicht!“ vielleicht die Frage nachschieben: …oder etwa doch? 

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