Tag der Befreiung, Tag der Niederlage, Tag einer neuen Besatzung? Am 8. bzw. 9. Mai unterzeichnete die Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation und markierte so das Ende des Zweiten Weltkrieges. Seither ist das Datum in vielen Ländern ein wichtiger Gedenktag - mit unterschiedlicher Bedeutung. In unserer neuen Serie fragen wir danach, wie verschiedene Länder dem Ende des Zweiten Weltkrieges gedenken.
Am 5. Mai wird in den Niederlanden, die lange und stark unter dem NS-Regime gelitten haben, mit dem Bevrijdingsdag (Befreiungstag) das Ende der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg im ganzen Land gefeiert. Es handelt sich um einen gesetzlichen Feiertag der Niederlande.
Am 4. Mai 1945 unterzeichnete eine deutsche Delegation die Teilkapitulation der Wehrmacht für Nordwestdeutschland, Dänemark und die Niederlande. Am 5. Mai verhandelten zusätzlich der kanadische General Charles Foulkes und der deutsche Oberbefehlshaber Johannes Blaskowitz in Wageningen die Kapitulation der Wehrmacht in den Niederlanden.
Drei Viertel der niederländischen Jüdinnen und Juden wurde während des Zweiten Weltkriegs ermordet, mehr als in jedem anderen westlichen Land.
475.000 Niederländer:innen wurden in Deutschland zur Zwangsarbeit eingesetzt. Im letzten Kriegswinter brach eine Hungersnot aus, 22.000 Menschen starben zwischen September 1944 und Mai 1945 an den direkten oder indirekten Folgen des Hungers.
Im ganzen Land werden die Flaggen gehisst und es finden Befreiungsfestivals in 14 Städten des Landes statt. Etwa beim Bevrijdingsfestival in Wageningen, wo die deutsche Kapitulation 1945 unterschrieben wurde. Befreigungsfestivals gibt es in jeder Provinz, von Haarlem bis Groningen und Roermond.
Seit einer Gesetzesänderung 2015 wird der 8. Mai als Gedenktag in Polen begangen.
Jahrzehntelang wurde, wie in der ganzen (ehemaligen) Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten, der 9. Mai als „Nationaler Gedenktag des Sieges“ (Narodowe Święto Zwycięstwa i Wolności) begangen.
In Polen ist das Gedenken an den 8. Mai ambivalent: Im Mai 1945 endete mit dem Zweiten Weltkrieg der folgenschwerste Krieg der polnischen Geschichte und es begann gleichzeitig eine neue Phase der Fremdherrschaft durch die Sowjetunion.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde verstärkt eine öffentliche Debatte um die Rolle des 8./9. Mai geführt. Einerseits steht der 8. Mai für das Ende des Zweiten Weltkrieges, der für Polen die rücksichtlose Zerstörung und Unterdrückung durch die deutsche Besatzung bedeutete. Zwischen 1939 und 1945 wurden mindestens 1,5 Millionen polnische Staatsbürger:innen zur Zwangsarbeit deportiert. Zwischen 1,8 und 1,9 Millionen nicht-jüdische polnische Zivilist:innen und über 3 Millionen jüdische polnische Staatsbürger:innen wurden ermordet.
Andererseits markiert der Tag auch den Beginn einer neuen Periode der Unterdrückung.
Der Gedenktag wird in vielen polnischen Städten mit dezentralen Veranstaltungen begangen.
Aufgrund der Ambivalenz des Mai-Datums sind andere Tage in der nationalen Erinnerungskultur wichtiger: Die großen staatlichen Erinnerungsfeiern konzentrieren sich unter anderem auf den 1. September, als 1939 mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg begann, den 1. August als Jahrestag des Beginns des Warschauer Aufstandes 1944 und den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz 1945.
In Südkorea wird am 15. August die Befreiung von der japanischen Besatzung gefeiert. Der Nationale Tag der Befreiung Koreas (Gwangbokjeol) erinnert an die Unabhängigkeit von Japan am 15. August 1945. Bis 1945 waren Nord- und Südkorea eine Provinz des japanischen Kaiserreichs, die Chōsen hieß.
Erst am 12. September 1945 kapitulierten die letzten japanischen Truppen - damit endete der Zweite Weltkrieg.
Der Name Gwangbokjeol, wie das Fest in Südkorea genannt wird, bedeutet übersetzt: „Der Tag an dem das Licht wiederkehrte“.
In Nordkorea wird der Feiertag Chogukhaebang’ŭi nal genannt, was übersetzt „Tag der Befreiung des Vaterlands“ heißt.
Trotz der verschiedenen Bezeichnungen, wird an diesem Tag in Nord- und Südkorea das gleiche Ereignis gefeiert - der einzige gemeinsame Feiertag der beiden Staaten.
Der Feiertag wird in Südkorea jedes Jahr mit vielen Aktivitäten und Veranstaltungen begangen.
Am Gwangbokjeol sind unzählige Nationalflaggen Südkoreas über Häusern und Gebäuden zu sehen. Zahlreiche Museen sind am 15. August kostenlos, genauso wie der öffentliche Nahverkehr innerhalb des Landes.
Tag der Niederlage, Stunde Null, Neuanfang, Tag der Befreiung? In der deutschen Nachkriegsgeschichte hat sich die Bedeutung des 8. Mais gemeinsam mit der Aufarbeitung der deutschen Verbrechen und dem eigenen Selbstverständnis gewandelt. Heute wird im Kontext des Jahrestages zumeist nur vom „8. Mai“ gesprochen, manchmal findet sich noch die Bezeichnung „Tag der Befreiung“. An diesem Tag wird der Opfer des Nationalsozialismus und der Verantwortung, die sich daraus für unsere Gesellschaft ableitet, gedacht.
In der MEMO-Studie von 2020 wurden Menschen danach befragt, wie gut die Begriffe „Befreiung“, „Neuanfang“, „Kapitulation“ und „Niederlage“ das Ende des Zweiten Weltkrieges beschreiben würden. Insgesamt erhielten alle vier Wörter eine hohe Zustimmung - wobei „Niederlage“ als am wenigsten geeignet und „Befreiung“ als am geeignetsten empfunden wurde. In derselben Studie gab etwa die Hälfte aller Befragten an, sich Sorgen darüber zu machen, dass die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus „verschwinden“ könnte (49,3 Prozent).
Auch in diesem Jahr wird es am 8. Mai in vielen deutschen Städten wieder Gedenkveranstaltungen, Reden und Kranzniederlegungen geben.
Die Ukraine erinnert mit zwei Tagen an das Kriegsende: Am 8. Mai feiert das Land wie viele europäische Länder den Tag der Erinnerung und der Versöhnung; am 9. Mai begeht die Ukraine den Tag des Sieges gegen den Nationalsozialismus.
8. oder 9. Mai als Zeitpunkt der Kapitulation? Dass es in der ukrainischen Erinnerungskultur gleich zwei Tage gibt, an denen des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland und des Kriegsendes gedacht wird, hat auch mit Politik und nationaler Identität zu tun: 2015, im Kontext der Krim-Annexion, verabschiedete das ukrainische Parlament das Gesetz über die „De-Sowjetisierung“. In einem Medienbeitrag erklärte Wolodymyr Wjatrowytsch, damaliger Leiter des Instituts für nationales Gedenken in Kiew: „Wir wollen … die europäische Tradition der Erinnerung übernehmen“ und „hier in der Ukraine müssen wir die sowjetischen Mythen nicht wiederholen.“ Mit dem 8. Mai rückte die Ukraine sowohl erinnerungskulturell als auch zeitlich näher an Westeuropa heran. Der 8. Mai symbolisiert eine Hinwendung zur westeuropäischen Gedenkkultur.
Am 8. Mai und 9. Mai wird mit einer Reihe von Veranstaltungen des Endes des Zweiten Weltkrieges und des Sieges über das nationalsozialistische Deutschland gedacht. Der 9. Mai wird in der Ukraine begangen, um die betagten Veteranen des Zweiten Weltkriegs und ihre Familien zu ehren, jedoch ohne Fanfaren der Militärparaden oder die Zurschaustellung von Macht und Waffen. Neues Symbol der Feierlichkeiten wurde die Mohnblume.
2022 fielen die Veranstaltungen wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine aus. In einem Video gedachte Präsident Wolodymyr Selenskyj in Borodjanka der Opfer des Zweiten Weltkriegs: „Die Worte 'Nie wieder' - sie klingen nun anders für uns“, sagte Selenskyj. „Voller Schmerz und grausam. Mit einem Fragezeichen anstelle eines Ausrufezeichens. Ihr sagt nie wieder? In der Ukraine ist dies seit dem 24. Februar vorbei.“
Russland feiert - anders als viele europäische Länder - den „Tag des Sieges“ (День Победы) am 9. Mai: An diesem Tag erst erfolgte nach Moskauer Zeitrechnung die unterzeichnete Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. In der Sowjetunion wurde der Tag 1965 offiziell als Feiertag eingeführt.
Der 9. Mai soll eigentlich an den Sieg der Sowjetunion über das Deutsche Reich und damit das Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ erinnern. Mittlerweile aber, so die zunehmende Kritik, diene der Tag weniger dem Gedenken als vielmehr der eigenen politischen Legitimation und sei Instrument einer rigiden Geschichtspolitik des Kremls. Die Plattform dekoder schreibt von einer „militaristischen 9.-Mai-Religion“, die „Feindbilder pflegt, Kriege glorifiziert und den Stalinismus rechtfertigt“: „Anstelle einer Würdigung des Sieges, eines Festakts zum Kriegsende, anstelle einer Feier des Friedens ist Russland dazu übergegangen, den Krieg zu rühmen […] anstelle des Bannspruchs ‚Bloß keinen Krieg‘, den die Nachkriegsgenerationen beschworen, hat Russland die revanchistische Losung ‚Wir können das wiederholen.“
Der Tag des Sieges ist mittlerweile der wichtigste Nationalfeiertag Russlands. Traditionell wird auf dem Roten Platz in Moskau eine gewaltige Militärparade inszeniert, begleitet von einer Trauerminute und dem Niederlegen von Nelken. In diesem Jahr steht der 9. Mai unter dem Eindruck des russischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieges auf die Ukraine. Präsident Wladimir Putin nutzte den Gedenktag, um in einer Rede auf dem Roten Platz sein eigenes, vielfach widerlegtes Narrativ zu verbreiten: Seinen Worten zufolge sei die russische Invasion ein notwendiger Präventivschlag gewesen, um Russland vor einer durch den Westen aufgerüsteten Ukraine zu schützen; zugleich zog er Parallelen zum Zweiten Weltkrieg: Russische Truppen würden heute in der Ukraine das verteidigen, „wofür unsere Väter und Großväter gekämpft haben.“
In Griechenland ist der 8. Mai kein Gedenktag und spielt im kollektiven Gedächtnis und der griechischen Gedenkkultur nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger für die nationale Erinnerungskultur ist der „Ochi-Tag“ (Επέτειος του «Όχι», Jahrestag des „Nein“), der am 28. Oktober begangen wird. Der Feiertag erinnert an die Ablehnung eines von Mussolini gestellten Ultimatums, wonach den Achsenmächten erlaubt werden solle, „strategisch wichtige Punkte“ zu besetzen.
Dass er 8. Mai für die meisten Griechinnen und Griechen kaum Bedeutung haben dürfte, liegt auch an den Schrecken, die im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg folgten. Der Lyriker Titos Patrikios erklärt: Am 8. Mai „…haben wir uns gefreut, dass der Nazismus besiegt war, aber dann wurde ja bei uns weitergekämpft." Nach Kriegsende schlitterte Griechenland in einen blutigen Bürgerkrieg, der erst 1949 sein Ende finden sollte.
In Lettland wird des Kriegsendes am 8. und 9. Mai gedacht. Allein in Riga feiern jährlich mehr als 100.000 russischsprachige Letten die Befreiung vom Nationalsozialismus durch die Sowjets. Der 9. Mai ist aber ähnlich wie in anderen europäischen Ländern umstritten, da er nicht nur das Kriegsende, sondern auch den Beginn von 50 Jahren sowjetischer Besatzung markiert.
Aktuell wird auch in Lettland über die Bedeutung des 9. Mai kontrovers diskutiert. Ähnlich wie in Polen markiert das Datum nicht nur die Befreiung vom NS, sondern auch eine neue Phase der Besatzung durch die Sowjetunion. Wie kontrovers die Bedeutung des Tages ist, lässt sich in lettischen Medienbeiträgen nachlesen: Während die EU-Abgeordnete Inese Vaidere jüngst fragte, ob Innenministerin Marija Golubeva nicht verstehe, „wie beleidigend diese Veranstaltung für die Opfer des Totalitarismus in der Ex-Sowjetunion und ihre Familien“ sei, verteidigt Philosoph Artis Svece den Gedenktag im Onlineportal SatoriIch: „Ich würde [aber] sagen, dass der 9. Mai zu einer Feier der Identität der russischen oder russischsprachigen Gemeinschaft Lettlands geworden ist.“
Am 9. Mai werden in Riga die russischen Kriegsveteranen am sowjetischen Siegerdenkmal geehrt, wo sich normalerweise tausende lettische Russen einfinden – nicht so in diesem Jahr. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine beschloss das Parlament in Ende März eine Gesetzesänderung, nach der nicht nur das propagandistische Z-Symbol, sondern auch öffentliche Veranstaltungen an sowjetischen Ehrenmalen untersagt werden. Laut dem Nachrichtenportal eurotopics bezeichnete Lettlands Premier Kariņš das Fest als „Verherrlichung der Besetzung unseres Landes“.