Im Gespräch: Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Historiker und Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

Herr Wagner, wie erklären Sie sich die Zunahme der Angriffe auf Gedenkstätten?

Angriffe auf Gedenkstätten sind nichts Neues. Schon in den frühen 1950er Jahren planten Rechtsextreme, den Obelisken in der gerade erst eröffneten Gedenkstätte Bergen-Belsen zu sprengen – genauso wie der Neonazi Michael Kühnen 1979. Beide Pläne scheiterten. In den „Baseballschläger-Jahren“, also den 1990ern, waren vor allem die Gedenkstätten in Ostdeutschland Ziel von Angriffen. In Buchenwald gab es damals deshalb eine stationäre Polizeiwache. Danach wurde es etwas ruhiger. Seit 2015 stellen wir aber wieder eine deutliche Zunahme fest, vor allem in den vergangenen zwei bis drei Jahren – also etwa seit der Zeit, in der extrem Rechte und Rechtsoffene anfingen, auf Montagsspaziergängen ihren „Widerstand“ gegen die angebliche Corona-Diktatur zu inszenieren, antisemitische Verschwörungslegenden zu verbreiten sowie dann auch bald Putins Krieg zu unterstützen und gegen den angeblich „linksgrün versifften Mainstream“ zu hetzen – womit sie die Idee einer vielfältigen, weltoffenen und liberalen Gesellschaftsordnung meinen. Es ist die Zeit, in der der Höhenflug der AfD in den Meinungsumfragen und bei Wahlen begann. Kurzum: Die Angriffe auf die Gedenkstätten spiegeln den politischen Rechtsruck in Deutschland und vielen anderen Ländern, einen Rechtsruck, mit dem Diskursverschiebungen einhergehen, die zum einen dadurch bedingt sind, dass geschichtsrevisionistische und rassistische Narrative durch die AfD aus den Parlamenten heraus verbreitet werden, zum anderen aber auch durch den Umstand, dass demokratische Parteien insbesondere aus der bürgerlichen Mitte diese Diskurse zunehmend übernehmen.

Wie kann und sollte man sich aus ihrer Sicht dagegen wehren?

Zum einen, indem die demokratischen Parteien aufhören, Narrative der extrem Rechten zu kopieren – in der irrigen Annahme, damit Wähler:innen zurückgewinnen zu können. Zum anderen, indem wir alle der Normalisierung geschichtsrevisionistischer und extrem rechter Diskurse geschichtsbewusst und mit einem klaren ethischen Kompass entgegentreten. Drittens, indem wir uns in den Gedenkstätten und in der Bildungsarbeit nicht hinter einer falsch verstandenen Neutralität verstecken. Unsere Neutralität endet dort, wo die Verbrechen der Nationalsozialisten in Frage gestellt, verharmlost oder relativiert werden. Wer solche Positionen vertritt, darf in Gedenkstätten keine Bühne bekommen. Deshalb ist es nicht nur legitim, sondern ganz im Sinne unseres gesetzlichen Auftrages, wenn wir Funktionären der AfD, deren Thüringer Parteichef Höcke die Erinnerungskultur frontal angreift und der das reflexive Geschichtsbewusstsein durch ein nationalistisches Narrativ des Stolzes auf unsere Geschichte ersetzen möchte, die Teilnahme an Veranstaltungen zu verbieten. Und auch als Privatpersonen können wir uns im Alltag gegen die Normalisierung extrem rechter Propaganda wenden, indem wir laut widersprechen, wenn jemand in der Straßenbahn oder auf der Familienfeier rassistisch hetzt oder die NS-Verbrechen verharmlost. Zivilcourage ist gefordert. Das ist mühsam und kostet Überwindung. Aber ohne den Widerspruch im Alltag werden wir es nicht verhindern können, dass extrem Rechte in immer mehr Regionen die kulturelle Hegemonie erlangen. Und wer im Alltag schweigt, darf nicht von denen „da oben“ erwarten, dass sie Haltung zeigen. Wir alle sind gefordert.

Sie sprechen von einem "erinnerungspolitischen Klimawandel". Ist der Wandel aufhaltbar? Wenn ja, wie?

Im Augenblick erleben wir nicht nur einen erinnerungspolitischen Klimawandel, sondern eine umfassende Entgrenzung der Vereinnahmung und Verdrehung von Geschichte im politischen Diskurs. Fast alle politischen Lager nutzen den Verweis auf den NS, um ihre eigenen Positionen zu legitimieren – auch in außenpolitischen Auseinandersetzungen, z.B. mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine oder den Krieg in Nahost nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober. Dem müssen wir eine wissenschaftlich fundierte Rekontextualisierung der NS-Verbrechen entgegensetzen. Wir müssen stärker in die Gesellschaft hineinwirken, mit dem Ziel, historische Urteilskraft und Geschichtsbewusstsein zu stärken. Dafür dürfen wir in den Gedenkstätten nicht allein darauf warten, dass die Menschen zu uns kommen. Wir müssen zu ihnen gehen, vor allem aber auch im digitalen Raum Präsenz zeigen. Wissensaneignung und Meinungsbildung finden mittlerweile ja vor allem dort statt und nicht in Bibliotheken oder gepflegten Diskussionsrunden. Im Netz verbreitet sich Fake History, dort verbreiten und radikalisieren sich geschichtsrevisionistische Narrative exponentiell. Deshalb müssen wir dort präsent sein und Geschichtslegenden und der Instrumentalisierung von Geschichte seriöse, wissenschaftlich fundierte und didaktisch klug aufbereitete Information entgegensetzen. Das heißt auch, in Social Media aktiv zu sein – wie überhaupt mit historisch-politischen Interventionen im öffentlichen Raum zu agieren.

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