Dr. Claire Demesmay, Referatsleiterin „Interkulturelle Aus- und Fortbildung” beim Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW)

Frau Demesmay, im Juli wurde das DFJW 60 Jahre alt. Herzlichen Glückwünsch! Sie sind Expertin für die Geschichte der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Welche Rolle spielten junge Menschen bei den Bemühungen um Versöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg?

 

Danke für die freundlichen Glückwünsche! Bereits nach dem Zweiten Weltkrieg, noch bevor es zu einer politischen Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich kam, gab es Begegnungen von Jugendlichen aus beiden Ländern. Sie fanden zunächst in einem sehr kleinen Rahmen statt, waren aber der Ausgangspunkt einer Bewegung, die beide Gesellschaften einander näherbrachte. In diesem Sinne spielte die Zivilgesellschaft - und insbesondere die Jugend - eine Vorreiterrolle bei der Annäherung und später bei der deutsch-französischen Aussöhnung. Die Initiatoren dieser Treffen, oftmals ehemalige Widerstandskämpfer oder Überlebende der Konzentrationslager, handelten nicht aus Sentimentalität, sondern pragmatisch, um eine Wiederholung eines solch mörderischen Konflikts zu verhindern.

Auch die Regierungen beider Länder haben ab Mitte der 1950er Jahre die Bedeutung des Austausches zwischen Jugendlichen verstanden. So entschied sich der französische Präsident Charles de Gaulle bei seiner Reise nach Deutschland im September 1962 dafür, sich an die deutsche Jugend zu wenden. In seiner Rede, die er in deutscher Sprache vor 20.000 Jugendlichen in der Stadt Ludwigsburg hielt und die den Weg für die Politik der deutsch-französischen Freundschaft ebnete, „beglückwünschte“ er seine Zuhörer:innen zunächst zu ihrer Jugend und ermutigte sie dann, sich für die deutsch-französische und im weiteren Sinne auch für die europäische Annäherung einzusetzen.

Die Regierungschefs beider Länder beschlossen daraufhin, die Begegnungen zwischen Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich zu institutionalisieren, indem sie das Deutsch-Französische Jugendwerk gründeten. Seine Gründung, wenige Monate nach der Unterzeichnung des Elysee-Freundschaftsvertrags im Januar 1963, ermöglichte es, die Kontakte zwischen Jugendlichen aus Deutschland und Frankreich zu erweitern und zu intensivieren und so den Austausch zu systematisieren, der bis dahin auf persönliche Initiativen und Vereine zurückzuführen war. Seitdem hat diese politische Unterstützung nie nachgelassen und kam auch in der Gründung der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) im Jahr 1997 zum Ausdruck.

Vor welchen Herausforderungen steht der deutsch-französische Jugendaustausch heute?

Sechzig Jahre nach der Gründung des DFJW ist das Ziel der Pioniere der deutsch-französischen Annäherung weitgehend erreicht worden. In der Zivilgesellschaft haben sich die bilateralen Spannungen aufgelöst. An Stelle des Misstrauens und der Feindseligkeit, die unmittelbar nach dem Krieg herrschten, ist Sympathie, ja sogar Freundschaft zwischen beiden Bevölkerungsgruppen getreten. Wie die Studie des DFJW über die Wahrnehmungen junger Menschen in Deutschland und Frankreich zeigt, wird das Nachbarland nicht mehr als Fremder gesehen, sondern in erster Linie als Partner, mit dem man in so unterschiedlichen Bereichen wie dem Klimaschutz oder dem Einsatz für den Frieden zusammenarbeiten möchte. Gleichzeitig haben sich die kulturellen und sprachlichen Angebote deutlich diversifiziert und gehen weit über den rein deutsch-französischen Kontext hinaus. Zwar gibt es nach wie vor zahlreiche Jugendaustausche zwischen beiden Ländern, doch das Partnerland hat wenig Exotisches mehr an sich. In diesem Sinne ist seit einigen Jahren eine gewisse „Banalisierung“ der deutsch-französischen Beziehungen zu beobachten, die sich auch in einem Rückgang des Erlernens der Sprache des anderen ausdrückt.

Dies zwingt die Akteure der deutsch-französischen Zusammenarbeit dazu, ihre Angebote weiterzuentwickeln, um sie für die Jugend von heute attraktiver zu machen. Dies geschieht durch die Einführung anderer Formate, die partizipativer und inklusiver Natur sein sollen, und durch die Auseinandersetzung mit Themen, die die Jugend motivieren – angefangen mit dem ökologischen Wandel. Die Erneuerung der deutsch-französischen Angebote erfolgt auch durch die Öffnung bestimmter Programme für Drittländer, seien es die Balkanländer oder die Länder des südlichen Mittelmeerraums, um der Zusammenarbeit eine neue Dynamik zu verleihen. Schließlich ist es unerlässlich, den Austausch weiter zu demokratisieren, indem man jungen Menschen gewinnt, die nicht von vornherein für die deutsch-französische bzw. die europäische Idee begeistert sind. Denn eine solche interkulturelle Erfahrung erweist sich oft als lebensprägend.

Das DFJW und die Stiftung EVZ planen eine Jugendbegegnung. Sie wird im Rahmen des gemeinsamen Projektes „Krieg(e) in Europa. Geteilte Erfahrung, Gemeinsame Erinnerung? – Deutschland, Frankreich, Bosnien und Herzegowina“ stattfinden. Was sind die Ziele der Begegnung - und worauf freuen Sie sich besonders?

 

Es handelt sich um ein sehr schönes und sinnvolles Projekt, das unsere beiden Institutionen in einem Co-Creation-Prozess gemeinsam entwickelt haben – worüber wir uns im DFJW besonders freuen. Ausgangspunkt war die Überlegung, wie Friedenspädagogik in der internationalen Jugendarbeit weiterentwickelt werden kann, in einer Zeit, in der ein Angriffskrieg auf europäischem Boden stattfindet. Insbesondere für Deutschland und Frankreich, die das Narrativ der „Umwandlung der Erzfeindschaft in Freundschaft“ pflegen und sich gern als Friedensstifter verstehen, ist diese Frage extrem relevant. Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine geht diese Frage jedoch weit über den deutsch-französischen Rahmen hinaus. Sie gewinnt auch in den Ländern des Westbalkans an Bedeutung, die in der jüngsten Vergangenheit ebenfalls Kriege erlebt haben.

Das gemeinsame Ziel dieses Pilotprojekts ist es, junge Menschen für das soziale und politische Zusammenleben in Europa zu sensibilisieren. Aus den oben genannten Gründen erschien es uns wichtig, die deutsch-französische Zusammenarbeit auch für Bosnien und Herzegowina zu öffnen. Die Begegnung von Jugendlichen aus den drei Ländern wird von einem Austausch zwischen Fachkräften der formalen und non-formalen Bildung aus den drei beteiligten Ländern umrahmt. Ein erstes Treffen hat bereits im Mai stattgefunden, um Ansätze und Methoden für die internationale Jugendbildungsarbeit zu entwickeln, die in die Jugendbegegnung einfließen und die die Fachkräfte am Ende des Jahres auswerten werden.

Nach einer intensiven Phase der Reflexion freue ich mich nun ganz besonders auf die Jugendbegegnung - in Form einer Reise durch Europa. Indem sie sich gemeinsam mit unterschiedlichen Kriegs- und Konflikterfahrungen aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie aus den Balkankriegen auseinandersetzen, werden die jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Umgang mit Kriegen untersuchen, nachfühlen und verstehen können. Was wir uns damit erhoffen, ist nicht nur eine gesteigerte Empathiefähigkeit, sondern auch die Ausbildung einer Ambiguitätstoleranz unter den Teilnehmenden. So geht Innovation in der internationalen Jugendarbeit!

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