Rezension von Filmkritiker Knut Elstermann

Ein „Paradies“ nennt die Frau des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss ihr Reich. Das Haus mit dem ausgedehnten Garten ist nur durch eine Mauer vom Vernichtungslager getrennt, in dem täglich Tausende Menschen ermordet und verbrannt werden. Hedwig, ihr Mann und ihre fünf Kinder leben hier, ein kleiner Hofstaat mit Bediensteten. Es sind Gefangene aus dem Lager, denen Hedwig bei der kleinsten Verfehlung mit Ermordung droht. Stolz präsentiert sie Besuchern wie ihrer Mutter das Anwesen, führt sie herum und genießt die absolute Macht in ihren vier Wänden. Sie sei die „Königin von Auschwitz“, sagt Rudolf Höss.

„The Zone of Interest“, der vierte Film des britischen Regisseurs Jonathan Glazer, eine britisch-amerikanisch-polnische Koproduktion, auf Deutsch in Polen gedreht, wurde in Cannes 2023 mit der zweitwichtigsten Auszeichnung, dem Großen Jurypreis geehrt. Er hätte eigentlich die Goldene Palme verdient, denn dieser radikale und mutige Film eröffnet einen neuen, innovativen Zugang zur viel zitierten „Banalität des Bösen“, indem er konsequent auf der Seite der Mörder und ihrer alltäglichen Verrichtungen bleibt. Glazer versucht nicht wie Steven Spielberg in „Schindlers Liste“ oder László Nemes in „Son of Soul“ das Grauen der Vernichtung im Lager selbst nachvollziehbar zu machen, die Todesmaschinerie zu rekonstruieren. Bei Glazer bleibt die andere, schreckliche Welt unsichtbar. Es wehen Rauchschwaden, Schüsse, Melodien des Orchesters an der Rampe, ferne Schreie und unheimliche, dräuende  Geräusche in das „Paradies“ hinüber. Hedwig, die später behaupten wird, sie hätte nichts gewusst, blendet diese Realität vor ihrer Haustür aus.

Nach Motiven des umstrittenen Romans „Interessengebiet“ von Martin Amis, der während der Filmfestspiele von Cannes in Florida verstarb, inszeniert Jonathan Glazer das Idyll der Täter als perfekte Abspaltung von der Wirklichkeit. Man feiert und spielt mit den Kindern, tafelt üppig vor den Augen der hungernden Gefangenen und macht Ausflüge an den See.

Kleine, sorgsam gesetzte Details lassen die Allgegenwart des Massenmords in die geschlossene Familienwelt einbrechen. Beim Baden im See findet Höss einen Knochen im Wasser und verklumpte Asche, die Kinder müssen sich sofort gründlich waschen. Hedwig kuschelt sich selig in einen kostbaren Pelzmantel. Sie weiß genau, wem er gehört hat.

Glazer, der in den 90er Jahren stilprägende Musikvideos für Bands wie „Blur“ und „Radiohead“ gedreht hat, konnte sich für seinen bedrückenden Film auf zwei große Schauspieler stützen. Sandra Hüller als Hedwig und Christian Friedel als Rudolf Höss spielen das Paar mit Eiseskälte und halten uns immer auf  Distanz zu ihnen. Hedwig gefällt sich in der ständigen Geschäftigkeit der vielfachen Mutter und Hausherrin, die alles im Griff hat. Sandra Hüllers überragendes Spiel nimmt das Propaganda-Bild der „deutschen Frau“ auf, zeigt wie sehr es die skrupellose Hedwig verinnerlicht hat, mit dieser unbegrenzten Machtfülle jenseits aller Normen, dem plötzlichen Wohlstand als Profiteurin der Ermordung der europäischen Juden. Niklas Frank hat diese Art von „hoher Frau“ im Nazi-Reich in seinem Buch „Meine deutsche Mutter“, über seine eigene Mutter und Frau des Generalgouverneurs im besetzten Polen, seines Vaters Hans Frank, 2005 eindrucksvoll und anschaulich beschrieben. Nicht weit von Franks Residenz in Krakow liegt das Vernichtungslager Auschwitz.

Rudolf Höss, der seine Frau betrügt, strebt die höchste Normerfüllung des Tötens an, eine Effizienz, die ihn bei den Vorgesetzten ins rechte Licht rücken soll. Wir sehen ihn als beflissenen Bürokraten bei Beratungen mit Ofenbauern für das Krematorium und in Sitzungen für das planmäßige Morden. Die Besetzung mit dem so gar nicht brutal wirkenden, feinnervigen Christian Friedel mag zunächst überraschen. Doch sie erschließt sich bald durch Friedels präzise Darstellung eines haltungslosen Opportunisten, eines beflissenen Emporkömmlings, dem kein Verbrechen zu groß ist, wenn es der Karriere dient.

Alle Sätze, auch die furchtbarsten, werden von Hüller und Friedel mit Beiläufigkeit dahingesagt, nicht mehr als reines Alltagsgeschwätz, hinter dem das Unvorstellbare steht. Gedreht wurde mit zeitweise bis zu zehn Kameras, die überall im Haus eingebaut waren. Die Darstellenden wussten nicht, aus welchem Winkel sie aufgenommen wurden, ob überhaupt gedreht wurde. Sie spielten als erfahrene Theaterschauspieler ihre Szenen durch, in jeder Sekunde präsent. So entsteht der Eindruck einer alltäglichen, häuslichen Routine, die mit unserem Wissen um den Holocaust kaum zu ertragen ist. Gegen Ende wechselt die Perspektive in das heutige Museum Auschwitz, ein schockartiger, sinnfälliger Sprung in das heutige Erinnern.

„The Zone of Interest“ ist ein filmischer Meilenstein, ein neuer Schritt der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazis, die niemals enden darf. Er schiebt das Geschehen nicht in die sichere Entfernung eines historischen Raumes und bietet keine tröstliche oder gar erlösende Narration, etwa der gerechten Bestrafung von  dämonischen Tätern. Er vergegenwärtigt, dass Herr und Frau Jedermann am Werk waren. Das macht den Film so erschreckend und zeitgemäß.

Interview mit Christian Friedel

Christian Friedel gehört den herausragenden deutschen Schauspielern seiner Generation. Der 1979 in Magdeburg geborene, vielseitige Künstler hat sich neben seiner Theaterarbeit in Dresden und Düsseldorf einen guten Namen in bedeutenden Filmproduktionen gemacht  wie „Das weiße Band“, „Elser“ und „Babylon Berlin“. Mit seiner Band „Woods of Birnham“ hat er Theaterprojekte begleitet und mehrere Alben veröffentlicht. In „The Zone of Interest“ spielt er Rudolf Höss, den Kommandanten von Auschwitz von 1940 bis 1943. 

Wie sind Sie in die Biografie vom Nazi-Massenmörder Rudolf Höss eingestiegen?

Friedel: Es war anders als sonst. Normalerweise lese ich viel, sehe mir Filme an, beschaffe mir alle Materialien über diese Figur, wenn es denn eine reale Person war. Hier aber wollten wir keine Biografie dieser Menschen darstellen. Wir schauen in das Fenster dieser Familie, in ihr Alltagsleben. Dabei gab es eine gewisse Freiheit in der Interpretation, die wir in langen Diskussionen mit dem Regisseur Jonathan Glazer und mit Sandra Hüller erarbeitet haben. Manchmal war es gut, mit einer gewissen Spontanität in eine Situation hineinzugehen und zu sehen, was passiert. Durch dieses Multi-Kamera-System hatten wir alle Zeit der Welt und alle Möglichkeiten, um uns in diese Situationen hineinzuspielen.

Auch mit Improvisation?

Friedel: Ja, es wurde auch improvisiert. Wir waren ja völlig allein in diesem Haus und im Garten. Jonathan Glazer mit seinem Team war in einem Trailer neben dem Set, haben uns dort frei bewegt. Die Improvisation hat uns geholfen, eine Tonalität  zu finden, um diese ungeheuerlichen Sätze in einer ganz normalen Form zu sagen. Das erschreckende an dem Film ist doch, dass wir keine geborenen Monster zeigen, keine Klischee-Nazis, wie man sie oft sieht. Das sind Menschen wie du und ich, es ist schrecklich, dass zu sagen, aber es ist die Wahrheit. Sie hatten Träume und Wünsche wie wir alle, ein guter Beruf, ein gutes Auskommen. Aber ihre Entscheidung für ein blutiges Regime hat zum schlimmsten Menschheitsverbrechen geführt, das wir uns vorstellen können. Wir wollten diese Abspaltung zeigen, von dem was sie taten und wie sie danach ganz normal wieder nach Hause gingen.

Sandra Hüller und Sie spielen keine Karikaturen, das sind schon Menschen aus Fleisch und Blut. Bei Ihrer Figur, beim Höss, sieht man eine erbärmliche, niederträchtige Gestalt, ein Feigling, ein im Innersten verdorbener Opportunist, der für die Karriere alles tut. In Ihrem Spiel sehe ich diese Verachtung, diesen Abscheu.

Friedel: Ich kann wirklich nicht verleugnen, wie sehr ich diesen Menschen verabscheue. Er war der perfekte Untertan und Mitläufer. In einem anderen System wäre er niemals an eine solche Position gelangt. Menschen und Macht, das Verhältnis sieht man auch hier: Menschen sind nicht für Macht gemacht. Er hat bei den Prozessen auch immer gesagt, er habe nur Befehle ausgeführt. Dabei wollte er stets als der Beste vor seinen Vorgesetzten dastehen. 

Aber auch vor seiner Frau. Deren Mutter, gespielt von Imogen Kogge, kommt zu Besuch in das Haus und verschwindet plötzlich nach einigen Tagen ohne Abschied. Ihre Motive bleiben unklar, aber sie ist die Stellvertreterin von außen, die wissen muss, was hinter der Mauer geschieht.

Friedel: Im Grunde zeigt diese Figur die Möglichkeiten unterschiedlichen Verhaltens. Wie bewertet man das Geschehen und wie verhält man sich? Es wird nicht aufgelöst, ob das Verschwinden eine Form von Protest war. Oder einfach ein Unbehagen wegen des Gestanks, der Geräusche. Sie sagt am Anfang, jenseits der Mauer ist bestimmt Eine, für die ich mal gearbeitet habe. Vielleicht meint sie, das geschehe ihr recht, aber mitansehen will sie es nicht. Wir erleben das gerade gesellschaftlich doch auch. Wir leben in einer Zeit, in der der Faschismus wieder erstarkt, der Antisemitismus wieder hervortritt und rechtsextreme Parteien Zulauf haben. Wie verhalten wir uns dazu, wie nutzen wir unsere Stimmen in einer noch funktionierenden Demokratie? Das Wegschauen, das Akzeptieren kann nicht die Lösung sein.

Ich saß in Cannes, bei diesem großen Festival mit einem internationalen Publikum sehr beklommen in meinem Kinosessel. Wie ist es Ihnen ergangen, als Sie gedreht haben? Sicher keine Rolle, die man nach Drehschluss leicht wieder los wird?

Friedel: Das war eine sehr intensive Arbeit. Wir haben uns anderthalb Jahre vorbereitet auf den Film, und dann lebten wir dort, drei Monate in Oświęcim. Danach sind wir nach Katowice umgezogen, haben dort weitergedreht. Dann brach der Krieg in der Ukraine aus, gar nicht weit von uns. Was wirklich mit mir geschah, ist mir erst bewusst geworden, als ich plötzlich eine Panikattacke hatte. Ich saß in einem Café, dachte zunächst, es sei eine Folge von Corona. Aber es war eine Reaktion des Körpers, ein Ausdruck für das, was ich mit mir herumgetragen habe. Letztlich bin ich jedoch sehr dankbar für diese Erfahrung, ich habe als Künstler viel gelernt. Ich hoffe sehr, dass viele Menschen sich diesen Film ansehen werden, besonders viele junge Leute, die nicht mehr damit aufgewachsen sind. Vielleicht merken sie, dass dieser Film Fragen aufwirft.  Jonathan Glazer will mit diesem erreichen, dass wir uns unserer Verantwortung stellen.

Weitere Informationen zum Film

Den Trailer zum Film finden Sie hier.

Das Filmprojekt wurde von Leonine Studios und A24 produziert.