Dr. Katja Makhotina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Frau Makhotina, MEMO V zeigt, dass ost- und südosteuropäische Länder generell in der Erinnerung der Deutschen an den Zweiten Weltkrieg kaum eine Rolle spielen. Woran liegt das?

Zum einen liegt es in der Westorientierung deutscher Erinnerungskultur: Westliche Nachbarn wie Frankreich, Niederlande oder Italien waren auch im Alltag den Deutschen viel näher als die Sowjetunion, Polen oder Jugoslawien. Zum anderen liegt es in der fortgesetzten Tradierung des Bildes vom „Feind im Osten“ durch die antikommunistische Gesinnung der alten Bundesrepublik, die nach der Wiedervereinigung auch für Ostdeutschland prägend werden sollte. Es ist bezeichnend, dass sowjetische und polnische Literatur über den Krieg, die in der DDR erschienen war, im Westen nicht mehr nachgedruckt wurde. So waren die Stimmen der Betroffenen hier nicht wahrnehmbar. Die Opferperspektive hatten lange Jahrzehnte die Deutschen für sich beansprucht, zentralisiert im schillernden Mythos des deutschen Opfergangs von Stalingrad. Dass die Generation der Väter an den Massenverbrechen der Wehrmacht beteiligt war, - darüber wollte und konnte man lange nicht sprechen. Die West- Anbindung hatte von der BRD gefordert, den Holocaust als negatives Gedächtnis der Nation zu integrieren. Für andere Opfer und ihre Perspektiven hatte die Gesellschaft in ihrem emotionalen Haushalt keinen Platz. Das langjährige Nicht-Wissen-Wollen über die Taten der Kriegsgeneration und die Abwesenheit der Betroffenen Perspektive in der Erinnerungskultur führen dazu, dass diese Länder bis heute nicht auf der Erinnerungskarte in Deutschland sind.

 

Was hatten diese weißen Flecken der Erinnerungskultur und das „Nicht-wissen-Wollen“ bisher für Folgen?

Eine unmittelbare Folge für die Erinnerungskultur ist das fehlende Bewusstsein, dass die NS-Gewalt im Rahmen des Vernichtungskrieges auch unmittelbar „vor der Haustür“ und in aller Öffentlichkeit stattfand. Die Menschen aus dem „Osten“ waren hier, – als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Hier wurden als Arbeitssklaven ausgebeutet, misshandelt, öffentlich hingerichtet, oder sie starben durch Bomben kurz vor der Befreiung, da ihnen der Zugang zu den Luftschutzkellern verwehrt war. Bis heute sind Zeichen ihrer Präsenz hier lediglich Kriegsfriedhöfe, an denen sie, meistens namenslos, in Massengräbern liegen. Es gibt für diese Opfergruppe kein Denkmal in der deutschen Hauptstadt. Eine mittelbare Folge ist das fehlende Wissen der jungen Generation über den Zweiten Weltkrieg, da der Unterricht in Geschichte zu diesen Themen oft nicht ausreichend ist. Viel wichtiger erscheint mir jedoch das daraus kommende Unverständnis der migrantischen Erinnerungsdiskurse. Sowohl die hier lebenden Menschen mit polnischem, ehemals sowjetischem, ehemals jugoslawischem (und nicht zu vergessen – auch griechischem!) Migrationshintergrund bringen andere Geschichten über den Zweiten Weltkrieg aus ihren Familien mit. Diese Geschichten, in denen Gewalt der Deutschen eine Rolle spielt, sind in deutscher Gedächtniskultur und Erinnerungspolitik nicht präsent. Dazu gehört auch die häufig wahrzunehmende Gleichsetzung sowjetisch=russisch. Die sowjetischen Gräber werden als russische Gräber bezeichnet, und Russland als alleiniges Opfer und Siegermacht kommuniziert. Das ist falsch: die Sowjetunion war ein Vielvölkerstaat, und vor allem heute müsste man aufschlüsseln, dass unter den Opfern viele Ukrainer waren, wie auch Angehörige anderer Nationen. Denn das betrifft die Frage der Erinnerungsverantwortung: Deutschland hat historische Verantwortung nicht nur gegenüber Russland, sondern nicht minder auch gegenüber der Ukraine.

Wie kann unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine ein differenziertes Erinnern an die Gewaltgeschichte Ostmittel- und Osteuropas erfolgen?

Je mehr Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergeht, desto größer wird seine Bedeutung für osteuropäische Gesellschaften, und vor allem für die Nachfolgerstaaten der Sowjetunion. Es ist bemerkenswert, dass gerade während des aktuellen Übergangs vom kommunikativen (die Zeitzeugen-Generation schwindet) in das kulturelle Gedächtnis über den Krieg und seine Folgen gestritten wird. Die Besonderheit der erinnerungskulturellen Situation liegt im aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine: Ein Nachfolgestaat der siegreichen Sowjetunion, die Russländische Föderation, hat einen anderen Nachfolgestaat, die Ukraine, angegriffen, führt Krieg gegen seine Menschen und seine Kultur, und bezieht sich dabei auf das Erbe und die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.  Es ist verständlich, dass in der Ukraine eine erinnerungspolitische Umorientierung stattfindet: die Erinnerung an die Befreiung vom Nazismus wird ergänzt mit der Erinnerung an den nationalen Kampf für die eigene Staatlichkeit und an die Opfer des stalinistischen Terrors.

In Osteuropa ist es schwierig, die Dialektik zwischen der Befreiung durch die Rote Armee und der Besatzung von kommunistischen Regimen auszuhalten. Ein Gedanke, der verschiedene europäische Perspektiven zusammenführt, könnte von der grundsätzlichen Anerkennung der Befreiung durch die Sowjetunion ausgehen. Für die Nationalbewegungen mag die deutsche Besatzung mit weniger Schrecken verbunden gewesen sein, für ihre jüdischen Landsleute bedeutete sie die Vernichtung. Hier sind wir wieder bei Osteuropa als blindem Fleck auf der Erinnerungskarte. Diese Verbrechenskomplexe zu kennen, würde die Figur des Sowjetsoldaten tatsächlich als Befreier erscheinen lassen, und nicht als verblendeten Stalinisten, dem es um die Machtausdehnung des Stalinimperiums nach Westen ging. Die Feststellung der Befreiungsrolle der sowjetischen Menschen kann zudem neben der berechtigten Kritik am sowjetischen Staat und der Benennung stalinistischer Verbrechen existieren. Ein Ansatz müsste auch sein, Opfergruppen nicht gegeneinander auszuspielen. Man müsste bedenken, dass bei der Übernahme der aktuellen nationalen Narrative in Deutschland diese mit sich eine ethisch problematische Haltung mitbringen: Opferkonkurrenz, Opferarithmetik und Opferhierarchie.