Zur Zeit des NS-Regimes suchten viele verfolgte Menschen ihr letztes Heil in der Flucht, häufig fehlte es jedoch bereits an Geld oder anderweitiger Unterstützung. In ihrer Verzweiflung wandten sich unter anderem tausende Jüdinnen und Juden – zum Christentum konvertierte wie nicht konvertierte – in sogenannten Bittschreiben an die katholische Kirche und ihr damaliges Oberhaupt, Papst Pius XII. Ein Team vom Seminar für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte um Prof. Dr. Dr. h.c. Hubert Wolf von der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster hat jetzt eine gemeinsame Förderung von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), dem Auswärtigen Amt und der Bayer AG erhalten. Mit der Summe werden in dem Projekt „Asking the Pope for Help“ die schätzungsweise 15.000 Bittschreiben in den vatikanischen Archiven systematisch erfasst und in einer digitalen Edition für die Öffentlichkeit aufbereitet.
Möglich wurde das zunächst auf fünf Jahre angelegte Forschungsvorhaben erst mit der lange verzögerten Öffnung der vatikanischen Archive aus dem Pontifikat Pius’ XII. (1939–1958) am 2. März 2020. Die vor zwei Jahren gestarteten Vorarbeiten für das Projekt hat die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung ermöglicht. „Ohne zu wissen, welche Ergebnisse die Sichtung der 400.000 Dokumentenschachteln im Vatikanischen Archiv zu Papst Pius XII. ans Licht bringen würde, ließ bereits die Projektskizze erahnen, dass das Vorhaben die historische Perspektive verändern kann. So war es eine gute Fügung, dass die Krupp-Stiftung ihre Gestaltungsfreiheit dafür nutzen konnte, dieses ambitionierte Projekt zu ermöglichen“, betont Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Gather, Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung. „Wir freuen uns und sind stolz darauf, dass wir die ersten Schritte gemeinsam mit dem Seminar für Kirchengeschichte gehen konnten.“
„Das Projekt hat eine große gesellschaftspolitische und historische Bedeutung – insofern gilt mein Dank den beiden Stiftungen für deren finanzielle Unterstützung und für das Vertrauen in die wissenschaftliche Arbeit der Universität Münster“, ergänzt der Rektor der WWU, Prof. Dr. Johannes Wessels. „Ich bin sicher, dass es dem Team um Prof. Hubert Wolf mit seiner theologischen und historischen Expertise gelingen wird, diesen einmaligen Bestand zu heben." Die Erkenntnisse aus der Rekonstruktion der Einzelschicksale sind auch für die politische Bildung von enormer Bedeutung.
Nach einem ersten Blick in die Akten zu Pius XII. war den Forscherinnen und Forschern schnell klar, dass bei der Analyse der Sammlung vor allem die Geschichte der Verfolgten im Vordergrund stehen muss. Indem die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Dokumente aus verschiedenen Archiven zusammentragen und die Lebensgeschichten jüdischer Menschen in einer digitalen Edition darstellen, eröffnen sie neue Perspektiven auf die damalige Zeit. Zahlreiche Opfer, von denen zumeist kaum mehr als ihre Namen und wenige Lebensdaten bekannt waren, bekommen wieder eine Stimme.
Die Analyse der Einzelschicksale soll zudem Aufschluss über die Reaktionen der katholischen Kirche auf die Hilfegesuche geben: Welche Potenziale hatte sie, dem Antisemitismus und der Judenverfolgung entgegenzutreten? Unter welchen Umständen wurden diese genutzt, und welche Gründe gab es dafür? Denn die Quellen enthalten nicht nur die häufig letzten handgeschriebenen Briefe und autobiografischen Skizzen der Opfer vor ihrer Ermordung, sondern umfassen auch die Antworten von Kirchenvertretern.
Die Forschung wird kontinuierlich medial begleitet, um im Sinne einer immer neuen Sensibilisierung für den Holocaust und einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit in die Öffentlichkeit wirken zu können. Dokumentationen, Artikel, Videos und innovative digitale Formate werden fortwährend die Ergebnisse des Projekts vermitteln und Einblicke in die Arbeit des Teams in den vatikanischen Archiven und in Münster geben. Da die Betroffenen aus verschiedenen Ländern Europas – unter anderem Deutschland, Polen, Italien und Frankreich – stammen, geschieht dies in einem internationalen Rahmen.
Die Erstellung weiterer didaktischer Materialien, beispielsweise zu ausgearbeiteten Fallgruppen, macht zudem biografisches Lernen möglich, das die Individualität der Verfolgten achtet und das Unvorstellbare des Holocaust konkret macht. Zudem werden einzelne Unterrichtsreihen für infrage kommende Fächer sowie die Organisation von Schülerprojekten und Lehrerfortbildungen das Projekt in Bildungseinrichtungen erlebbar machen. Für das Feld der politischen Bildung sind Ausstellungen und Workshops geplant. Als Multiplikatoren für Erinnerungskultur in Schule, Wissenschaft und Öffentlichkeit soll auch Studierenden in Form von Lehrveranstaltungen und Exkursionen ein verantwortungsvoller Umgang mit vatikanischen Dokumenten in adäquaten Formen des Erinnerns vermittelt werden.
Das Projekt „Asking the Pope for Help“ wird gemeinsam von der Stiftung EVZ, dem Auswärtigen Amt und der Bayer AG gefördert.
Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft ist es, die Erinnerung an das Unrecht der nationalsozialistischen Verfolgung lebendig zu halten, die daraus erwachsende Verantwortung im Hier und Heute anzunehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Zentrales Motiv der Stiftungsgründung im Jahr 2000 war die Auszahlung humanitärer Ausgleichsleistungen an ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen des NS-Regimes – ein Meilenstein der deutschen Aufarbeitung. Heute fördert die Stiftung über ihre Handlungsfelder Bilden und Handeln Projekte, die den Überlebenden nationalsozialistischer Verfolgung, der Völkerverständigung und der Stärkung von Menschenrechten dienen.
Die gemeinnützige Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung fördert seit 1968 Menschen und Projekte in Kunst und Kultur, Bildung, Wissenschaft, Gesundheit und Sport und hat sich dafür bisher mit 680 Millionen Euro engagiert. Als größte Aktionärin der thyssenkrupp AG verwendet die Stiftung die ihr zufließenden Erträge ausschließlich für gemeinnützige Zwecke und verfolgt das Ziel, neue Entwicklungen anzuregen. Mit ihrer Arbeit setzt sie Akzente in der Wissenschafts- und Hochschulentwicklung, möchte zur Völkerverständigung beitragen und die Ausbildung junger Generationen verbessern.