Von der Arbeitsgruppe „Antiziganismus“ der Villa ten Hompel

Am 8. April 1971 trafen in London Vertreter:innen der Minderheitengruppen der Roma aus neun Staaten zusammen, um kulturelle, soziale und politische Fragen zu diskutieren – ein wichtiger Startpunkt der weltweiten Roma-Bürgerrechtsbewegung. Seit 1990 ist der Internationale Roma-Tag ein jährlich stattfindender Aktionstag, an dem auf die Situation der Sinti:ze und Rom:nja, deren Verfolgung und fortdauernde Diskriminierung aufmerksam gemacht, aber auch deren Kultur gefeiert wird. Der Tag soll daran erinnern, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung ist, die Bürgerrechte von Sinti:ze und Rom:nja zu stärken und Antiziganismus kontinuierlich und dauerhaft zu benennen und zu ächten.

Auch in der Ausstellung der Villa ten Hompel finden sich zahlreiche Beispiele für die nationalsozialistische Verfolgung der Sinti:ze und Rom:nja, deren finanzielle Ausbeutung durch Behörden und Deportation in Vernichtungslager. Die Ausstellung zeigt polizeiliche Anweisungen zur Kontrolle und Segregation der mit zahlreichen Stereotypen belegten Minderheit, und verweist auch auf die fortdauernde Diskriminierung von Sinti:ze und Rom:nja nach 1945, zum Beispiel in den Entschädigungsverfahren des „Dezernats für Wiedergutmachung“ in der Villa ten Hompel. Der Sinto Horst L. berichtet in einem Interview von 2014, dass er seine Herkunft lange verleugnete, um einen Ausbildungsplatz zu erhalten.

Um diese Geschichte(n) ausführlicher erzählen und bearbeiten zu können, liegt ein Schwerpunkt des von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) geförderten Projekts auf dem Thema Antiziganismus. „Das geht mich ja was an!“ – der Titel des Projekts, in dem neue Seminare für Polizei, Verwaltung und Justiz entwickelt werden sollen – ist dabei programmatisch: in den Seminaren soll es nicht nur darum gehen, die nationalsozialistische Verfolgung einer Gruppe zu thematisieren, sondern auch eventuell fortbestehenden strukturellen Antiziganismus in Polizei-, Justiz- oder Verwaltungshandeln zu erkennen und zu benennen.

Aus diesem Grund ist die Projektgruppe „Antiziganismus“ dabei, Geschichten in der Ausstellung und in historischem Material zu finden, die sich bis heute „durcherzählen“ lassen und so Kontinuitäten in stereotypen Vorstellungen oder diskriminierenden Behandlungen von Sinti:ze und Rom:nja in Geschichte und Gegenwart aufzeigen können. Nicht selten wurde die Expertise der so genannten Z-Wort-Sachbearbeiter in der Nachkriegszeit reaktiviert und Datensätze zu „Landfahrern“ bis in die 2000er Jahre fortgeführt. Entschädigungsanträge wurden mit der Begründung abgelehnt, dass die nationalsozialistische Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja nicht aus rassistischen Gründen erfolgt sei, sondern aufgrund ihrer vermeintlichen Asozialität und Arbeitsscheu. Finden sich beispielsweise in kommunalen Wohnungsämtern, Polizeidienststellen, Gerichten oder im Strafvollzug noch Strukturen, die weiterwirken? Diesen Fragen möchte die Projektgruppe mit den Teilnehmenden von berufsgruppenspezifischen Seminaren nachgehen.

Die Basis dieser „Durcherzählung“ soll aber die Beschäftigung mit historischem Material, vor allem auch mithilfe von Biografien, bilden – zum Beispiel mit der Geschichte von Maria U. aus Telgte: die Hilfsarbeiterin und ihre beiden Kinder wurden als „Mischlinge“ eingestuft, die Kinder kamen in zwangsweise Heimerziehung. Maria U. wurde ins Konzentrationslager Ravensbrück deportiert, aus dem sie im September 1945 schwerkrank zurückkehrte, ihre Kinder wurden im Vernichtungslager Auschwitz ermordet. Eine Wohnung fand Maria U. nach ihrer Rückkehr in einer ehemaligen Flakbaracke weit außerhalb von Telgte. Ihre Anträge auf Entschädigung wurden in der Nachkriegszeit nicht im Sinne einer Wiederherstellung von Recht, sondern wie soziale Fürsorge behandelt: „Eine höhere Beihilfe erscheint aus dem Grunde nicht angebracht, weil die Antragstellerin nicht die Gewähr für die zweckmässige Verausgabung des Geldes bietet.“ Die biografische Annäherung führt hier ganz dicht an Geschichte(n) heran – und ermöglicht Fragen, die bis in die Gegenwart reichen.

Um noch mehr Möglichkeiten für Seminarmodule zu entwickeln, hat sich die Projektgruppe „Antiziganismus“ vorgenommen, vor allem auch die Nachkriegsgeschichte der Villa ten Hompel als Sitz des „Dezernats für Wiedergutmachung“ in den Blick zu nehmen, um Aufarbeitungsstrategien und Kontinuitäten im Umgang mit Verfolgten aufzeigen zu können. Dafür wird sie einen Blick in einige der mehr als 12.000 münsterischen Entschädigungsakten werfen. Nicht zuletzt wird gerade über Methoden diskutiert, wie die Seminare partizipativer und interaktiver werden können, damit sich auch bei der Beschäftigung mit dem Thema Antiziganismus die Einsicht einstellt: „Das geht mich ja was an!“.

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