Dr. Andra Draghiciu, Projektmitarbeiterin Vorfallerfassung, Forschung und Öffentlichkeitsarbeit, Melde- und Informationsstelle Antiziganismus Rheinland-Pfalz (MIA-RLP)

 

Frau Dr. Draghiciu, Sie gehen davon aus, dass es in Deutschland ein immenses Dunkelfeld von antiziganistischen Vorkommnissen gibt. Woran liegt das?

Wie der erste Bericht der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus zeigt, wurden für das Jahr 2022 621 antiziganistische Fälle erfasst. Wir gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer viel höher ist und zwar aus unterschiedlichen Gründen: Antiziganismus ist erst vor Kurzem in die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit gelangt und daher gibt es wenig Wissen zum Phänomen selbst. Auf institutioneller Ebene wurde noch keine feste, offizielle Definition erarbeitet, die von allen staatlichen, politischen oder zivilgesellschaftlichen Instanzen anerkannt ist. Auf individueller Ebene herrscht unter Nichtbetroffenen ein Unwissen darüber, was Antiziganismus ist und wie er sich im Alltag manifestiert – also wird er meistens nicht als solcher erkannt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die deutsche Gesellschaft auf eine lange Geschichte von Antiziganismus zurückblickt. Für Betroffene ist also der antiziganistische Blick der Institutionen, Medien und Individuen fester Bestandteil ihres Lebens. Viele unter ihnen kennen keine Realität außerhalb von Antiziganismus. Sie betrachten die Art und Weise, wie die Dominanzgesellschaft mit ihnen umgeht, als normal. Das trägt dazu bei, dass antiziganistische Vorfälle oft nicht als außergewöhnlich beziehungsweise meldenswert betrachtet werden. 

Zudem sind viele Betroffene misstrauisch gegenüber einem System, das sie und ihre Familien seit Generationen ausschließt und diskriminiert, also melden sie ihre Erfahrungen nicht oder erstatten keine Anzeige. Manche wollen sich auch nicht als Angehörige einer von Antiziganismus betroffenen Gruppe outen, weil sie negative Konsequenzen fürchten.  Letztendlich sind in Deutschland auch Personen von Antiziganismus betroffen, die die deutsche Sprache nicht ausreichend beherrschen, ihre Rechte nicht kennen und somit auch nicht wissen, an wen sie sich wenden können.

 

Wie äußert sich gesellschaftliche Ausgrenzung im Alltag der Betroffenen?

Betroffene von Antiziganismus werden schon während der Kindheit mit Ausgrenzung konfrontiert. Sie erleben Mobbing, Diskriminierung und Beleidigung sowohl seitens ihrer Kollegen:innen als auch durch Autoritätspersonen wie zum Beispiel Lehrpersonal. Meldungen an die Melde- und Informationsstelle Antiziganismus zeigen, dass betroffene Menschen bei der Wohnungssuche, auf dem Arbeitsmarkt oder in ihrer Freizeit institutionelle und individuelle Benachteiligung erleben, sei es im Umgang mit Behörden, zum Beispiel in Form von Racial Profiling durch Polizei, automatische Sonderschulempfehlungen durch Lehrpersonal oder in der Privatwirtschaft, zum Beispiel durch die Verweigerung des Zugangs zu Campingplätzen oder Gastronomiebetrieben.  Ein Animationsfilm von MIA-RLP, der im Rahmen der EVZ-Finanzierung entstand und auf unserem YouTube-Kanal zu sehen ist, verbildlicht häufige Erscheinungsformen von Antiziganismus im Leben der Betroffenen.

 

Der 8. April steht für den ebenso langwierigen wie engagierten Kampf um Anerkennung und Gerechtigkeit der Minderheit. Wie kann die Gesellschaft Sinti und Roma vor Ort unterstützen?

Antiziganismus ist ein Phänomen, das nicht nur Sinti und Roma betrifft, sondern auch Jenische, Reisende, Schausteller:innen oder Menschen aus Südosteuropa . Um die Betroffenen zu unterstützen und diese Form des Rassismus zu bekämpfen, muss die Gesellschaft ein Bewusstsein für die Existenz und Ausprägung des Antiziganismus entwickeln. Sowohl Individuen als auch Institutionen müssen sich selbst, ihre Einstellungen und Praktiken reflektieren, sich des antiziganistischen Vorurteilsrahmen, in dem sie existieren und operieren, bewusstwerden und mit diesem willentlich brechen. Auf institutioneller Ebene haben staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure die Aufgabe, Maßnahmen zur Bekämpfung von Antiziganismus in Form von Sensibilisierung, Bewusstseinsschaffung und Dekonstruktion anzuleiten sowie Strukturen wie zum Beispiel die Meldestellen nachhaltig zu sichern. Auf individueller Ebene muss man sich zum Thema ausbilden, um Antiziganismus erkennen und anschließend melden zu können, nicht nur als betroffene Person, sondern auch als Zeuge:in. Die Meldungen ermöglichen uns nämlich, die Dimension und Virulenz des Antiziganismus in der deutschen Gesellschaft herauszuarbeiten, zu zeigen, wo und wie Antiziganismus vorkommt – denn das ist eine wichtige Voraussetzung für seine Bekämpfung bzw. für das Empowerment von Betroffenen.

 

Hinweis: Der Verband Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Rheinland-Pfalz (VDSR-RLP) verwendet die Selbstbezeichnung Sinti und Roma in der nicht-gegenderten Form. Dies respektieren wir und übernehmen diese Form in diesem Interview. Generell hat sich die Stiftung EVZ entschieden, Rom:nja und Sinti:ze zu verwenden und erläutert dies hier.

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