Daniel Hegedüs, Senior Fellow mit Schwerpunkt Mittel- & Osteuropa beim German Marshall Fund of the United States 

 

Herr Hegedüs, wie blicken Sie auf die Europawahl?

Ich glaube, dass wir die diesjährigen Europawahlen als Wendepunkt erleben werden.  Nicht weil wir mit einem Durchbruch der beiden rechtsextremen Fraktionen „Europäische Konservative und Reformer“ (EKR) und „Identität und Demokratie“ (ID) rechnen müssen. Nach den vorliegenden Meinungsumfragen ist insgesamt mit 20 bis 30 zusätzlichen Mandaten für die rechtsextremen Kräfte gegenüber dem Status quo zu rechnen. Die Wahlen stellen einen Wendepunkt dar, da sie das Verhältnis des politischen Mainstreams zu den rechtsextremen Parteien grundlegend verändern werden. Es ist möglich, dass nach den Wahlen nicht mehr nur die „große Koalition“ aus Europäischer Volkspartei (EVP), Sozialdemokraten (S&D) und Liberalen (Renew) über eine Mehrheit im Europäischen Parlament verfügt, sondern auch die EVP und die Rechtsextremen zusammen, vielleicht mit der notwendigen Unterstützung der Liberalen. Das ist der Grund, warum sich weder die EVP noch Renew Europe klar von einer zukünftigen Zusammenarbeit mit Rechtsradikalen distanzieren oder diese kategorisch ablehnen. Die wichtigste politische Trennlinie in Europa wird in der Zukunft nicht zwischen der politischen Mitte und der radikalen Rechten verlaufen, sondern innerhalb der Mitte zwischen denjenigen, die mit der radikalen Rechten zusammenarbeiten, und denjenigen, die dies ablehnen. Entsprechend wird sich auch die rechtsextreme Parteienlandschaft verändern. Der Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion ist eigentlich das erste Zeichen für die kommenden politischen Bewegungen und Positionsverschiebungen.  

Wie gefährlich ist Rechtspopulismus für die Demokratie in Europa und welche Gemeinsamkeiten/ Unterschiede lassen sich aus Ihrer Perspektive in den einzelnen Ländern identifizieren?

Ich denke, wir können davon ausgehen, dass frühere westeuropäische Erfahrungen mit Rechtsradikalen in der Regierungspolitik nicht mehr ausschlaggebend sind. Es mag sein, dass sich rechtsextreme Parteien vor 2015 als kleine Koalitionsmitglieder in Regierungspositionen moderiert haben. Heute stehen wir jedoch vor anderen Herausforderungen. In vielen westeuropäischen Ländern wie Italien oder Österreich sind rechtsextreme Kräfte die größten nationalen Parteien, andere wie der Rassemblement National in Frankreich sind auf dem Weg zur größten Partei. Das gilt übrigens auch für die AfD in einigen neuen Bundesländern. Wir wissen aus den Beispielen Ungarn und Polen, dass rechtsextreme Parteien, wenn sie an die Macht kommen, damit beginnen, eine autoritäre Agenda durchzusetzen, die der Demokratie erheblichen Schaden zufügt. In Italien sehen wir bereits die ersten Anzeichen: die Protestaktionen der öffentlich-rechtlichen Medien gegen den Druck, sie unter politische Kontrolle zu bringen, die Wahlreform, die die Machtposition der Fratelli d’Italia zementieren würde, usw. Rechtsextreme Parteien in Regierungsmacht stellen eine enorme Bedrohung für die Demokratie dar, unabhängig davon, ob wir über westeuropäische oder mittel- und osteuropäische Fälle sprechen. Und diese Gefahr wird nun an der Spitze der europäischen Politik aktiv ausgeblendet.     

Wie wirkt sich digitaler Hass in der analogen Welt aus (Engagement, Wahlen, Politischer Raum)? 

Es ist beinahe axiomatisch, dass Online-Plattformen eine aktiv polarisierende Wirkung auf unsere Gesellschaften haben und viel dazu beigetragen haben, dass die argumentative politische Kommunikation beinahe an Bedeutung verloren hat. Wir können lange darüber diskutieren, ob dies eine bewusste Geschäftsstrategie ist oder ob sie einfach nur das wahre Gesicht unserer Gesellschaften zum Vorschein gebracht haben, aber die verheerenden Auswirkungen auf die demokratische Qualität und den Kohäsion sind unbestreitbar. Ob eine Plattformregulierung die negativen Auswirkungen signifikant reduzieren kann, ist eine Frage der Zukunft, aber ich bezweifle es, um ehrlich zu sein. Die gleiche Skepsis gilt für die Wettbewerbsfähigkeit zukünftiger „ethischer Plattformen“.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass neben den Plattformen auch die Angebotsseite der Politik problematisch ist und dass nicht nur die Vermittler, sondern auch die Quellen von Desinformation und antidemokratischen Botschaften als Teil der Herausforderung behandelt werden sollten. Die europäische Politik hat sich in den letzten Jahren stark auf externe Einflussnahme und Desinformation konzentriert, weil dies politisch bequemer und weit weniger riskant war. Es muss uns aber klar sein, dass es letztlich immer europäische Akteure sind, die von diesen Entwicklungen profitieren. Desinformation wird zu einem großen Teil auch von nationalen Akteuren betrieben, oft auch von rechtsextremen Parteien. Und über diese Dimension der Desinformation sollten wir mehr sprechen. Nationale Desinformation und russische/chinesische Desinformation in Europa sind keine unterschiedlichen Dinge, sondern nur unterschiedliche, aber miteinander verbundene Teile desselben autoritären politischen Ökosystems.

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