Interview mit Anna Lenchovska, Geschäftsführerin, und Lyn Sidelnikov, Praktikantin am Tolerspace Kyiv Educational Center, das mit einer TikTok-Kampagne über Antisemitismus aufklärt.

Anna Lenchovska, welches Ziel verfolgen Sie mit Ihrer TikTok-Kampagne?

Wir möchten eine tolerante Gesellschaft schaffen, Vorurteile unter jungen Menschen abbauen und ihnen die Möglichkeit geben, sich mit komplizierten Themen auseinanderzusetzen. Unserer Kampagne liegt der „Peer-to-Peer-Ansatz“ zugrunde. Denn wissenschaftlich erwiesen ist, dass Jugendliche ihren Gleichaltrigen mehr Vertrauen entgegenbringen als ihren Eltern und anderen Erwachsenen. Jugendliche nutzen TikTok bereits, und für viele von ihnen ist es sowohl Unterhaltung als auch eine Informationsquelle. Aus diesem Grund haben wir beschlossen, in den sogenannten „Edutainment“-Bereich von TikTok einzusteigen. Dazu arbeiten wir mit 15- bis 19-jährigen Praktikant:innen zusammen und veranstalten Treffen mit Expert:innen zu Antisemitismus, Antiziganismus, Hate Speech und angemessenem Sprachgebrauch, dem Holocaust, den NS-Verbrechen, Völkermord, Menschenrechten und Antidiskriminierung. Anschließend erarbeiten sie eine Reihe an Szenarien und drehen Videos. Anna Sidelnikova und Yana Radhenko betreuen diesen Arbeitsprozess. Wichtig ist auch, den Jugendlichen zu vermitteln, dass sie durch ein Praktikum und der aktiven Teilnahme an den Diskussionen unter den Videos, Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, die es Ihnen ermöglichen, sich mit schwierigen Themen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus werden die Jugendlichen zu gesellschaftlichem Engagement und tiefergehender Erforschung angespornt. Nach Abschluss des Praktikums fühlen sich die jungen Menschen zu zivilgesellschaftlichem Handeln befähigt. Im Verlauf dieses Jahres haben wir eine Datenbank mit hochwertigen Lehrvideos aufgebaut. In diesem Rahmen entwickeln wir methodologische Empfehlungen und bieten Webinare für Geschichtslehrer:innen und Lehrer:innen im Bereich der politischen Bildung an. Inzwischen haben wir bereits 25 Tsd. Abonnent:innen, mehr als 1,8 Millionen Aufrufe unseres Videos zum Thema Frauenrechte sowie 117 Tsd. Aufrufe und 351 Kommentare zu unserem Video über Babi Jar.

 

Lyn, geben Sie uns bitte einen Tipp für Bildner:innen: Wie können junge Menschen über TikTok für ernste Themen sensibilisiert werden?

Tatsächlich interessieren sich bereits zahlreiche ukrainische Jugendliche für ernste Themen, die eng mit ihrer Lebenswelt in Zusammenhang stehen: Politik, Krieg, Kriegsverbrechen und Völkermord. Sie möchten sich in diesem Bereich weiterbilden. Meiner Meinung nach sind echte Geschichten von echten Menschen das beste Format, um über historische Themen zu sprechen. Eine Sache, welche die Empathie der jungen Menschen fördert. Und schließlich, auch wenn es sich vermutlich lustig anhört, ist es heutzutage attraktiv, intelligent und gebildet zu sein. Deshalb müssen wir die jungen Menschen nur davon überzeugen, dass sie durch unser Projekt einzigartiges Wissen erwerben, mit dem sie ihren Altersgenossen:innen auf den Partys imponieren können. Durch kreative Formate schaffen wir es, Aufmerksamkeit und Neugierde zu wecken und zu bewahren. In unserer Rubrik „We’ve got news“ berichten wir über Neuigkeiten im Zusammenhang mit Menschenrechten und Antidiskriminierung. In diesem Fall verwende ich eine Handpuppe - eine Socke namens „Shkarpo“, mit der wir das Thema behandeln. Ebenso erstellen wir interaktive Videos zu Entscheidungsfindungen und ethischen Zwickmühlen, in denen die Viewer:innen aufgefordert werden, Stellung zu beziehen und diese in den Kommentaren zu erläutern. Im Video über "Urbicide" hatte ich die Idee, eine Stadt aus Ziegelsteinen zu bauen und sie dann zu zerstören, um zu verdeutlichen, wie russische Raketen ukrainische Städte und Dörfer zerstören. In dem Video über kritisches Denken und magisches Denken habe ich mich umgezogen, um den Unterschied zwischen Wahrsager:innen und Forscher:innen zu veranschaulichen.

Vor welchen Herausforderungen stehen historisch-politische Bildner:innen und Pädagog:innen im Umgang mit Antisemitismus auf TikTok?

Anna Lenchovska: Einen Monat nach unserer Kampagne nahmen Holocaust-Leugner:innen an der Diskussion unter den Videos über Überlebende teil und hinterließen dabei auch antisemitische Kommentare. Die meisten aggressiven Kommentare von Leugner:innen haben wir mittels unserer Anti-Krisen-Strategie gesperrt und mit jenen User:innen gesprochen, die Argumente  gegen die Leugner:innen suchten. Daraufhin sendete jemand eine Beschwerde über unser Video mit Empfehlungen von Filmen über den Holocaust, was danach zur Sperrung dieses Video führte. Nach einer Woche wurde die Sperrung des Videos aufgehoben, nachdem wir uns an das TikTok-Supportteam gewandt hatten.

Lyn Sidelnikov: Zusätzlich bekommen wir gelegentlich antisemitische Kommentare, die sich auf die antisemitische Verschwörungstheorie beziehen - auch wenn das Video sich gar nicht auf Jüdinnen und Juden bezieht. Beispielsweise haben wir unter dem Video zur Romantisierung der Sowjetunion Kommentare erhalten, in denen es heißt: „Juden regieren die Welt“. Abgesehen davon werden wir regelmäßig gefragt, weshalb wir Videos zum Holocaust machen, obwohl Israel den Holodomor nicht als Völkermord anerkannt hat.

Anna Lenchovska: Im Allgemeinen bemühen wir uns auf TikTok um eine Kultur des Dialogs. Wir stellen Links zu Quellen und Forschungen zur Verfügung, nennen Expert:innen usw. Die eigentliche Herausforderung bei TikTok besteht jedoch darin, dass User:innen ständig scrollen, und einige dieser Videos möglicherweise Fake News, Lügen oder Fehler enthalten. TikTok selbst ist ebenfalls bemüht, Hate Speech und Antisemitismus zu bekämpfen. So wurde einmal unser historisches Video zum Thema Auschwitz gesperrt, weil auf einem der historischen Fotos, die wir für das Video verwendeten, ein Hakenkreuz zu sehen war.