Interview mit Evelyne Paradis, Executive Director von ILGA-Europe

Frau Paradis, was ist das Besondere an der Programm-Kooperation zwischen ILGA-Europe und der Stiftung EVZ?

Sie gibt uns die Möglichkeit, eine mehrjährige Unterstützung anzubieten, um LGBTI-Gruppen eine längere Perspektive zu geben und Förderungen zu vergeben, die auf die Situation des jeweiligen Landes zugeschnitten sind. So wird sichergestellt, dass wir die Art von flexibler und kontextspezifischer Unterstützung bieten, die LGBTI-Organisationen benötigen, um ihren Aktivismus in immer schwierigeren Kontexten auszuüben. Durch unsere Partnerschaft mit der Stiftung EVZ haben wir diesen neuen Ansatz entwickelt, den wir nun anderen Geldgebern vorschlagen. Wir werden diesen länderspezifischen Ansatz auch durch Peer-Learning und Wissensaustausch zwischen den Geförderten in den verschiedenen Ländern ergänzen und das Gelernte innerhalb des großen Netzwerks von ILGA-Europe weitergeben.

 

Wie ist die Situation von LGBTIQ-Selbstorganisationen in Mittel- und Osteuropa?

Im Januar 2022 veröffentlichte ILGA-Europe mit "Funding to Meet Changing Realities" ihren zweiten Bericht über die Situation von LGBTI-Organisationen in Europa und Zentralasien. Dieser zeigt deutlich, dass LGBTI-Aktivist:innen – neben einer Reihe anderer herausfordernder Entwicklungen – mit der Finanzierung ihrer Tätigkeiten zu kämpfen haben. Etwa drei Viertel der LGBTI-Organisationen gaben an, dass für ihre wichtigsten Aktivitäten die Förderung fehlt, was ein Hindernis für die Durchführung von Projekten darstellt. Ihre wichtigste Arbeit leisten sie oft ohne Finanzierung. Etwa ein Drittel der LGBTI-Organisationen arbeitet mit einem Jahresbudget von weniger als 20.000 Euro. Das sind etwa 55 Euro pro Tag, während sie gleichzeitig zahlreiche Aktivitäten durchführen, um sowohl den Bedürfnissen der Community zu begegnen als auch Gesetze und politische Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte von LGBTI-Personen voranzutreiben. Darüber hinaus geben 85 Prozent der Organisationen an, dass sie mit Burnout zu kämpfen haben. Die häufigste Ursache für Stress und Burnout war, dass sie nicht in der Lage waren, den Bedürfnissen von LGBTI-Personen, die Hilfe suchten, gerecht zu werden, und dass sie auf Bedrohungen von rechten, LGBTI-feindlichen oder „Anti-gender“-Gruppen oder Einzelpersonen reagieren mussten.

Aus dem Bericht geht aber auch hervor, dass LGBTI-Organisationen trotz steigender Arbeitsbelastung, Burnout und zunehmender Bedrohungen und Angriffe ihre Arbeit weiter ausbauen und sich auf eine Vielzahl von besonders vulnerablen Gruppen innerhalb der LGBTI-Community konzentrieren, wie z. B. Migrant:innen, junge Menschen, trans und gender non-conforming Personen. Allerdings benötigen sie dringend zusätzliche Ressourcen, um diese Bemühungen zu verstärken. Wie unsere Programmdirektorin bei der Vorstellung des Berichts sagte: "Die eindeutigen Ergebnisse dieses Berichts sollten ein Aufruf zum Handeln für alle sein, die LGBTI-Organisationen unterstützen können und wollen oder ihr Engagement für LGBTI-Organisationen verstärken wollen.“

Müssen die Rechte von LGBTIQ-Personen in den Ländern Mittel- und Osteuropas eher durch nationale oder transnationale und europäische Ansätze gestärkt werden?

Die Stärkung von Gleichberechtigung muss auf allen Ebenen stattfinden, aber es ist sicher entscheidend, dort anzufangen, wo die Menschen und Communitys sind. Wir sind der Ansicht, dass der Ausbau von Fähigkeiten und Kenntnissen in den Bereichen Dokumentation, evidenzbasierte Advocacy, strategische Prozessführung, Mobilisierung von Gemeinschaften, Campaigning und Kommunikation sowie gutes Organisations- und Finanzmanagement ein wesentlicher Baustein ist, um soziale und rechtliche Veränderungen für LGBTI-Personen zu erreichen.

Durch den Ausbau von Kapazitäten werden LGBTI-Personen in die Lage versetzt, Erfahrungen in der gesamten Region auszutauschen, sich für die Festlegung von Standards einzusetzen sowie rechtliche und politische Veränderungen auf nationaler und europäischer Ebene zu erreichen. Darüber hinaus können Sichtbarkeit und rechtliche Sicherheit deutlich mehr LGBTI-Personen darin befähigen, ihre Rechte einzufordern und sie selbst zu sein.

Stärker empowerte Communitys wiederum sind eher in der Lage, Bewusstsein zu schaffen und über die Realitäten und Bedürfnisse von LGBTI-Personen zu sprechen, was letztendlich zu mehr Verständnis in der Gesellschaft und größerem Respekt vor Vielfalt beiträgt. Die Aktivitäten von ILGA-Europe sind auf der Grundlage dieses "Social Justice Advocacy"-Modells konzipiert. Sie befähigen unsere Mitglieder, Informationen über die Realitäten ihrer Communitys zu vermitteln und zu verstehen, wie sie wirksam zur regionalen Politikgestaltung und zu politischen Prozessen beitragen können.

Die Antwort auf Ihre Frage lautet also, dass dies alles wichtig und miteinander verbunden ist: Die Arbeit mit den Communitys in den europäischen und zentralasiatischen Ländern und die Übertragung dieser Arbeit auf die europäische Ebene.