Mit dem Förderprogramm JUGEND erinnert international unterstützt die Stiftung EVZ junge Menschen bei der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte. Im Mittelpunkt stehen das transnationale Lernen an historischen Orten der NS-Verfolgung und -Vernichtung sowie Fragen von europäischen Erinnerungskultur(en). Wir haben bei bereits abgeschlossenen Projekten nachgehakt: Dabei sind wir in Biografien von Held:innen abgetaucht, haben den Naliboki-Wald in Belarus besucht und Erstaunliches über begrabene Erinnerungen erfahren.
#WatchOutHstry – Leerstellen ausleuchten, ungehörte Geschichten erzählen, Verbindungen aufzeigen: Unter diesem Motto wird die Stiftung EVZ im Jahr 2023 bisher weniger bekannte Ereignisse, Orte und Opfer-Biografien zu den Verbrechen der Nationalsozialisten näherbringen. Wo sind Leerstellen in unseren Erinnerungskulturen und vergessene Orte der NS-Geschichte?
Mit dem Projekt „Break the Vicious Circle“ beschreitet Humanity in Action in Polen und Deutschland neue Wege in der Bildungsarbeit. Über eine App können Schüler:innen und Interessierte in die Biografien von 11 Held:innen eintauchen, die während des Nationalsozialismus Widerstand geleistet haben – und so zugleich für gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Hier und Heute sensibilisiert werden.
Katarzyna Filipek war eine Frau von außergewöhnlicher Courage. Als im Frühling 1943 eine jüdische Familie an die Haustür ihres kleinen Bauernhofs in Tokarnia, Kleinpolen, klopfte und bei ihr ein Versteck vor den Nationalsozialisten suchte, entschied sich Katarzyna, zu helfen – wohl wissend, dass sie damit ihr Leben riskierte. Sie versteckte die sechsköpfige Familie in ihrer Scheune. 1944 wurde sie denunziert, von der Gestapo festgenommen und erschossen.
Katarzynas Geschichte erzählt die App „10 SCHRITTE“, die im Rahmen des von der Stiftung EVZ und dem Auswärtigen Amt geförderten Projektes „Break the Vicious Circle“von Humanity in Action (HiA) in Polen und Deutschland entwickelt wurde.
Das Projekt wurde im Programm „JUGEND erinnert international“ gefördert: Es will die Erinnerung an vergessene Orte und Geschichten wachhalten, jungen Menschen einen fundierten Zugang zur Geschichte des Nationalsozialismus ermöglichen und sie zur Reflexion über gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heute anregen.
Die Idee für das transnationale Projekt kam während der Corona-Pandemie auf, als Schüler:innen nicht in die Schule gehen konnten, sich nicht in Parks aufhalten durften und teilweise auch nicht das Land verlassen konnten. Sie mussten einfach zuhause bleiben und so hing ein großes Fragezeichen über allem, auch ihrer Bildung. „Wir bei HiA haben uns damals gefragt, wie wir diese jungen Menschen im Lockdown aktivieren und für Geschichte interessieren können“, erzählt Larysa Michalska, Projektkoordinatorin bei HiA Polen. Nicht alle Schüler:innen hätten in ihren Familien den gleichen Zugang zu Ressourcen, die Digitalisierung des Unterrichts sei in vielen Teilen schleppend verlaufen. Die App, so die Überlegung, sollte ein einfach zugängliches, mobiles Tool sein, mit dem Lehrkräfte und Jugendliche arbeiten könnten.
„Holocaust, Genozid und der Zweite Weltkrieg sind sehr wichtige, aber auch sehr schwierige Themen. Wir haben uns gefragt, wie wir sie jungen Menschen vermitteln können“, erzählt Larysa Michalska weiter. „Wir wissen, dass viele junge Menschen am Smartphone im Internet nach Informationen suchen. Die Herausforderung war es, historisches Wissen fundiert und interessant über die App zu vermitteln, ohne dabei Informationen zu verkürzt darzustellen und einfach nur Schlagzeilen zu produzieren.“
Die App folgt einer klaren Struktur: Sie basiert auf Gregory Stantons Konzept der „10 Stufen zum Völkermord“. Demnach verläuft der Weg zu extremer Gewalt und Genozid Schritt für Schritt über zehn Stufen: von Diskriminierung über Entmenschlichung baut sich vor Nutzer:innen mit nur einem Fingerwisch eine Gewaltpyramide auf, die sich in der Vernichtung zuspitzt.
Jeder Schritt wird anhand einer realen Person, die im Zweiten Weltkrieg verfolgt wurde und Widerstand geleistet hatte, exemplarisch vorgestellt. App-Nutzer:innen erfahren nicht nur etwas zur Geschichte der Protagonist:innen, dem Ort der Handlung oder der jeweiligen Stufe, die der Person zugeordnet wurde; sie sollen außerdem durch gezielte Fragen eigene lebensweltliche Bezüge herstellen und über ähnliche Situationen reflektieren – und so, ganz im Sinne des Projektnamens, den Teufelskreis aus Gewalt durchbrechen lernen.
Auch Katarzyna Filipek ist eine der Held:innen, die der Eskalation der Gewalt ein Gesicht geben und sich gegen sie stellen. Über ihrer Biografie prangern die Worte „Schritt 4: Entmenschlichung“. Am Ende des Textes zu ihrem Leben und Sterben fragt die App: Weißt du, was es bedeutet, jemandem zum Sündenbock zu machen? Wer ist heutzutage betroffen? […] Was glaubst du, was kann man dagegen machen?
„Der beste Weg, Themen wie Nationalsozialismus und Holocaust zu unterrichten, ist über die Vorstellung von persönlichen Geschichten“, sagt Larysa Michalska. Der ständige Verweis darauf, dass es eben nicht nur um Zahlen und Daten gehe, klinge wie ein Klischee – aber es stimme nun einmal. Außerdem: „Diese Geschichten zu finden und zu erzählen ist vor allem heute wichtig, wo Zeitzeug:innen sterben und die Chancen mit ihnen zu sprechen sinken.“
Dem Team um Monika Mazur-Rafał, Larysa Michalska und Dr. Tomasz Cebulski war es besonders wichtig, das Projekt so partizipativ wie nur möglich zu machen. So veranstalteten HiA Polen und HiA Deutschland einen Wettbewerb um jene Biografien, die in die App aufgenommen werden sollten. Über die Einreichungen aus Polen und Deutschland wurde später öffentlich abgestimmt.
„Wir wollten möglichst viele verschiedene Gruppen erreichen und die eigene Bubble verlassen. Uns war es wichtig, auch jene Menschen und Orte zu involvieren, die sonst eher nicht an solchen Bildungsprojekten teilnehmen“, erklärt Larysa Michalska. Besonders überrascht wurden sie dabei vom Engagement rund um die Geschichte von Katarzyna Filipek: „Hier war die lokale Community wirklich aktiv und wollte unbedingt ihre Geschichte teilen. Die Menschen aus Tokarnia haben unsere Abstimmung zu den Biografien nicht nur aktiv beworben, sondern auch sehr rege an ihr teilgenommen.“
Auch die Geschichte von Jakub Müller geht auf das Engagement von außen zurück: Der Verein Sądecki Shtetl in Nowy Sącz hat HiA nicht nur bei der App-Erstellung unterstützt und mit Informationen zu Jakub Müller versorgt. Zwei Mitglieder des Vereins – Dr. Łukasz Połomski und der berühmte polnische Olympia-Kanute Dariusz Popiela – erzählen in der App auch Jakubs Geschichte.
Eine Herausforderung bestand in der technischen Umsetzung der App. Hier prallten Welten aufeinander: „Als Bildner:innen wollten wir am liebsten alles teilen, was wir hatten“, sagt Larysa Michalska. Schnell aber wurde dem Team klar: Technik macht vieles möglich, aber nicht alles sinnvoll: User Experience oder Anwendungsfreundlichkeit setzten ebenso Grenzen wie der Spagat zwischen Unterhaltung und Ernsthaftigkeit im Design.
Nur: Ist eine App mit ihrer verkürzten Darstellungsweise das richtige Tool, um über Holocaust und NS-Unrecht zu sprechen? Definitiv, findet Larysa Michalska. „Wir müssen jungen Menschen mehr vertrauen und aufhören, Social Media und Online-Tools zu dämonisieren. In meinen Augen steht der Inhalt an erster Stelle, erst dann folgt das Tool, das ihn transportiert.“ In Zeiten, die sich so rasant änderten und ständig neue Formate produzierten, könnten sich Bildner:innen diesem Wandel nicht länger verschließen. Junge Menschen informierten sich heute anders. Und Humanity in Action will diese erreichen.
Das positive Feedback, dass HiA während der internationalen Testphase und seit der Einführung der App erhalten hat, scheint der Organisation recht zu geben. Die meisten Biografien seien zwar polnische, sie funktionierten aber auch außerhalb des Landes. Noch heute erhält Larysa Michalska E-Mails von Lehrkräften, die die App mit ihren Schüler:innen nutzen und sich bedanken. Und auch aus Tokarnia kam Rückmeldung. Dort freut man sich, dass Katarzyna Filipeks beinahe vergessene Geschichte erzählt wurde.
Die Idee: Ganz im Sinne ihres Organisationsnamens möchte Humanity in Action jungen Menschen nicht nur Wissen vermitteln, sondern sie auch in Aktion bringen. Die App „10 SCHRITTE“ soll informieren und dazu motivieren, tiefer in die Themen einzusteigen. Für Lehrende bietet die App ein nützliches Tool für den Unterricht oder zur Vor- bzw. Nachbereitung von Gedenkstättenbesuchen. Auf der Projekt-Website gibt es noch mehr Materialien und Raum für weitere Biografien.
Die App: Die App „10 SCHRITTE“ lässt sich kostenlos auf Android und iOS herunterladen und ist auf drei Sprachen (Englisch, Polnisch, Deutsch) verfügbar. Neben den Texten zeigt die App auch Bilder und historische Dokumente, bindet Videos und Audios ein und regt mit Fragen und Tests zum Nachdenken an. Unter der Biografie von Stefania Wilczyńska etwa sind Archivbilder vom Umschlagplatz des Warschauer Ghettos neben aktuellen Fotos der Stadt zu finden – eine bildgewordene Verbindung zwischen der Vergangenheit und dem Heute.
Projektträgerin: Humanity in Action Polska, Warschau, Polen
Kooperationspartner: Humanity in Action Deutschland, Berlin, Deutschland
Förderländer: Deutschland, Polen
Förderzeitraum: 1. Januar 2021 bis 30. Juni 2022
Fördersumme: 92.914 Euro
Kunst als Werkzeug, sich mit Geschichte auseinandersetzen und eine Verbindung zum Heute aufbauen: Das ist die Idee hinter dem belarusisch-belgisch-deutschen Projekt „Living Memorials“. Teilnehmende haben im Naliboki-Wald in Belarus und an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin einen ungewöhnlichen Versuch unternommen.
Der Naliboki-Wald um die belarusische Stadt Navahrudak ist von einer außergewöhnlichen Flora und Fauna geprägt. In dem knapp 2.000 Quadratkilometer großen, von Sümpfen durchzogenen Gebiet leben noch Wölfe, Luchse, Otter und Bären. Es ist ein friedlicher Ort – und zugleich Schauplatz von Widerstand und Überlebenswillen der jüdischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkrieges.
Irgendwo in der Stille des Urwaldes steht Tamara Vershitskaya, Spezialistin für jüdisches Kulturerbe, und erklärt: „Wir befinden uns hier im Zentrum des ehemaligen Lagers der Bielski-Partisanen. An dem Ort, an dem mehr als eintausend Juden und Jüdinnen jeden Tag zusammenkamen oder alleine spazieren gingen, sich mit Mädchen verabredeten, Freunde in den verschiedenen Hütten besuchten.“ Im Schutz des Waldes überlebten Jüdinnen und Juden aus Navahrudak und umliegenden Städten, die vor Krieg und Holocaust geflohen waren und sich den Bielski-Partisanen angeschlossen hatten – darunter ältere Menschen, Frauen und Kinder.
Besucher:innen mit Ort interagieren lassen
Tamara Vershitskaya führt an diesem Tag die Teilnehmenden des von der Stiftung EVZ und dem Auswärtigen Amt geförderten Projektes „Living Memorials“ („Lebendiges Denkmal“) durch das ehemalige Lager der jüdischen Partisanengruppe um die Brüder Tuvia, Asael und Zus Bielski. Aus ihrem Versteck im Naliboki-Wald heraus leisteten sie von 1942 bis 1944 aktiven Widerstand gegen die deutschen Besatzer und retteten Schätzungen zufolge 1.200 Juden und Jüdinnen das Leben.
Die heutige Gruppe nimmt an einem ungewöhnlichen Versuch teil: Die Teilnehmenden sollen hier, inmitten des Naliboki-Waldes, einen ganz persönlichen Zugang zur Geschichte der Bielski-Partisanen finden und Ort und Geschichte Leben einhauchen – über eigene Kunstwerke. Dafür sollen sie nutzen, was der Ort ihnen zur Verfügung stellt. Eine zweite Gruppe hat in Deutschland an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin denselben Auftrag.
„Museen präsentieren viele Fakten, Dokumente und Bilder. Aber sie arbeiten nicht so mit den Besucher:innen, dass Geschichte für sie lebendig wird, sie diese nachempfinden können“, erzählt Tamara Vershitskaya später. „Unser Projekt hat gezeigt, dass es eine andere Art gibt, Besucher:innen mit einem Ort interagieren zu lassen. Die Teilnehmenden waren hier keine Zuschauer:innen, denen nur etwas erzählt wird. Sie wurden Akteur:innen, Schöpfer:innen, Macher:innen. Ich glaube, vor allem in der belarusischen Gruppe war es das erste Mal, dass die Teilnehmenden so etwas erlebt haben.“
Mit ihrem belarusisch-belgisch-deutschen Projekt „Living Memorials“ erproben drei Expert:innen aus unterschiedlichen Disziplinen neue pädagogische Wege der Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung – weg von klassischen und hin zu partizipativen Bildungsformaten: Die Expertin für Holocaust-Education Tamara Vershitskaya, der Künstler Roman Kroke sowie der Filmemacher André Bossuroy, der das Projekt filmisch begleitet und dokumentiert hat.
„Ich bin davon überzeugt, dass wir es jungen Menschen bei der Auseinandersetzung mit Geschichte ermöglichen müssen, eine Verbindung zum Heute, zu ihrer eigenen Lebenswelt herzustellen. Kunst kann genau das“, erzählt der Künstler Roman Kroke. „Ich sage den Teilnehmenden nicht, was für eine Art von Kunstwerk sie entwickeln sollen. Weder die Darstellungsform noch das Thema sind vorgegeben. Ich leite sie vielmehr dazu an, ihrer eigenen Kreativität zu vertrauen und in der Geschichte etwas zu entdecken, was sie persönlich anspricht.“
Nur: Warum Berlin, warum der Naliboki-Wald um Navahrudak?
Für ihr Projekt hat das Trio bewusst zwei Orte gewählt, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch verflochten sind: Das Haus der Wannsee-Konferenz als Ort der Täter, an dem die Vernichtung des europäischen Judentums geplant wurde. Und das ehemalige Lager der Bielski-Partisanen im Naliboki-Wald als Ort der Verfolgten, aber auch des jüdischen Widerstands.
„Das ehemalige Lager der Bielski-Partisanen im Naliboki Wald ist ein nahezu unberührter Raum inmitten wilder Natur. Wir standen praktisch vor einer jungfräulichen Leinwand“, sagt Roman Kroke. Nach den einführenden Vorträgen zur Geschichte des Ortes habe es zunächst viel Stille und Leere gegeben. „Im Gegensatz dazu ist das Haus der Wannsee-Konferenz eine renommierte, über Jahrzehnte etablierte Gedenk- und Bildungsstätte; ein dicht belegter Ort, an dem es für die Teilnehmenden eine besondere Herausforderung war, freien Raum für kreative Gestaltung aufzuspüren.“
Wie sie diese meisterten, zeigte etwa die belgische Lehrerin Manon Roeland in Berlin. Unter einem Baum im Garten vor dem Haus der Wannsee-Konferenz hatte sie verfaulte Äpfel und ein Bild des Gebäudes in den knalligen Farben der Pop-Art platziert. „Wir wollten den Unterschied zwischen der äußeren Erscheinung und etwas anderem im Innern zeigen“, erklärt sie später. Zu dieser Frage habe sie die Beschäftigung mit der Biografie Josef Bühlers, der die „Endlösung“ in Polen besonders schnell umsetzen wollte, bewegt.
André Bossuroy kennt diese Macht von partizipativen und interdisziplinären Projekten wie „Living Memorials“: „Seit unserem ersten historischen Projekt über die außergewöhnliche Persönlichkeit von Etty Hillesum vor 15 Jahren höre ich immer wieder von Teilnehmenden, dass sie sich durch das Projekt verändert haben; dass eine tiefgreifende Transformation in ihrem Inneren stattgefunden hat – und ich habe festgestellt, dass dies auch für die Mitarbeitenden der Videotechnik gilt“, erzählt der Dokumentarfilmer. „Das ist genau die authentische Erfahrung, die wir mit diesen Projekten erschaffen. Aber das liegt auch an den historischen Ereignissen, die wir aufarbeiten, und an den Persönlichkeiten, die wir durch dieses Projekt entdecken."
Dem stimmt Tamara Vershitskaya zu. „Diese emotionale Erfahrung, die man so einmal gewonnen hat, hilft auch dabei, im Heute anders zu leben, anders auf bestimmte Situationen zu reagieren.“ Man vergesse vielleicht Namen, Daten und Fakten. Aber die emotionale Erfahrung bleibe.
Diese Veränderungen bleiben nicht auf die Teilnehmenden beschränkt. Roman Kroke berichtet: „Es ist sehr berührend, wenn man den Präsentationen der Teilnehmenden zuhört. Diese Menschen erzählen etwas, was so zuvor noch nie erzählt wurde. Das hat etwas unglaublich Fragiles. Es ist der Moment, wenn wir als Expert:innen selbst zu Lernenden werden.“ Diese neuen, frischen Stimmen schützten davor, im Angesicht schwieriger Themen hart zu werden.
Entscheidend bei sensiblen, transnationalen Projekten ist auch das gegenseitige Vertrauen unter den Verantwortlichen: „Wir standen auch vor Herausforderungen mit den Teilnehmenden. Die Stärke unseres Projektes ist es, dass wir drei uns seit Jahren kennen und tiefes Vertrauen zwischen uns herrscht. Wann auch immer Schwierigkeiten auftauchten, wussten wir, dass wir uns aufeinander verlassen können und gemeinsam eine Lösung finden würden.“
Dass das Konzept eines lebendigen Denkmals nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen ist, lässt sich heute an einer Schule in Paderborn beobachten: Dort hat eine Teilnehmerin gemeinsam mit ihren Schüler:innen ein „Beet der Erinnerung“ gepflanzt – mit Blumensamen aus dem Naliboki-Wald.
Die Idee: Ganz im Sinne des EVZ-Förderprogramms JUGEND erinnert international entwickelten die international zusammengesetzten Projektteilnehmenden aus Aktivist:innen, Studierenden, Lehrer:innen, Bildner:innen und Reiseführer:innen an zwei Orten der NS-Verfolgung innovative Methoden der politisch-historischen Bildung. Sie gingen dabei nicht nur der Frage nach, was unter einem „Living Memorial“ zu verstehen sei, sondern auch, wie ein solches Konzept zukünftig die pädagogische Arbeit bei internationalen Jugendbegegnungen bereichern könne.
Weil sich die beiden Gruppen aufgrund der COVID-Pandemie nicht wie geplant persönlich treffen konnten, sandten die Teilnehmenden kurzerhand Samen, Beeren und andere Objekte zur jeweils anderen Gruppe. Darüber hinaus interagierten die Teilnehmenden mit einer internationalen Expert:innen-Gruppe („External Digital Contributors“), die den Austausch an beiden Standorten mit ihrer Expertise bereicherten und ihnen spezifische Aufgaben stellten.
Die Ergebnisse: Die Projektergebnisse wurden nicht nur auf der Projektseite und in einem Projektfilm festgehalten. Zusätzlich wurde es in einer Ausstellung in Berlin, Minsk und Navahrudak präsentiert. Pädagog:innen können heute zudem auf die Vorarbeiten des Projekts zurückgreifen: Eine öffentlich zugängliche pädagogische Tool-Box soll Inspiration und Hilfe für weitere Jugendbegegnungen an historischen Orten bieten.
Projektträger: Mediel asbl, Wavre, Belgien
Kooperationspartner:
Förderländer: Deutschland, Belarus
Förderzeitraum: 1. Dezember 2020 bis 30. Juni 2022
Fördersumme: 76.028 Euro
Für ihr transnationales Jugendprojekt „MAZEWA“ hat sich die Hillersche Villa einen ungewöhnlichen Ort ausgesucht: den jüdischen Friedhof in Zittau. Mit internationalen Freiwilligen hat sie diesen nun über einen digitalen Rundgang weltweit zugänglich gemacht. Das Projekt will damit auch an die vergessene jüdische Geschichte im Dreiländereck zwischen Deutschland, Polen und Tschechien erinnern.
Der jüdische Friedhof von Zittau, einer Kleinstadt im äußersten Südosten Sachsens, liegt etwas unscheinbar außerhalb des Stadtzentrums im heutigen Industriegebiet. Ein Schild am Friedhofseingang informiert: „Der Schlüssel zum Tor befindet sich in der Friedhofsverwaltung der Stadtverwaltung Zittau, Görlitzer Straße 55b“. Doch Besucher:innen kommen sowieso eher selten hierher.
Dabei geht die Bedeutung des kleinen Friedhofsgeländes über eine Ruhe- und Trauerstätte hinaus: An diesem Ort lässt sich die fast vergessene jüdische Geschichte Zittaus Grabstein für Grabstein erzählen. Und genau das hat das von der Stiftung EVZ und dem Auswärtigen Amt geförderte Projekt „MAZEWA – Jüdisches Leben und Sterben im Dreiländereck“ getan: u.a. über einen digitalen Rundgang, die Errichtung eines Tastmodells der 1938 gesprengten Trauerhalle sowie das Aufstellen von Interpretationsschildern. Das von der Hillerschen Villa in Zittau initiierte transnationale Jugendprojekt hat so ein Stück jüdische Geschichte im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck zurück ins Bewusstsein geholt und für die Nachwelt bewahrt – ganz im Sinne des Förderprogramms „JUGEND erinnert international“.
„In Zittau gibt es praktisch nur noch einen Ort, der an jüdisches Leben erinnert, und das ist dieser Friedhof“, erzählt Felix Pankonin, Leiter der Netzwerkstatt, dem Projektbereich für historisch-politische Bildung an der Hillerschen Villa. „Deshalb ist dieser Ort für die Arbeit der Netzwerkstatt von besonderer Bedeutung. Er bietet einen sehr reichen Zugang zur jüdischen Geschichte Zittaus, die sonst weitgehend vergessen ist.“
Dass heute jede:r den jüdischen Friedhof in Zittau über einen mehrsprachigen virtuellen Rundgang erkunden und mit wenigen Klicks etwas zu seiner Geschichte, zur jüdischen Kultur sowie dem Leben und Sterben der dort Beerdigten erfahren kann, ist der Arbeit von etwa 30 jungen Menschen aus mehr als 15 Ländern zu verdanken. Im Rahmen von „MAZEWA“ hat eine Gruppe aus internationalen Freiwilligen Biografien, Orte sowie historische, mit dem Friedhof verbundene Ereignisse rekonstruiert, den Ort digital kartografiert und so einen digitalen Erinnerungsort geschaffen. Eine zweite Gruppe hat in einem zweiwöchigen Workcamp die Umrisse der von den Nationalsozialisten 1938 gesprengten Trauerhalle wieder sichtbar und spürbar gemacht: Über ein Tastmodell aus Bronze können Besucher:innen die einstige Trauerhalle nun im Detail betrachten und mit den eigenen Händen erfühlen.
„MAZEWA“ sollte nicht nur (junge) Menschen für lokale Geschichte begeistern und vergessene Orte jüdischen Lebens und des NS-Unrechts sichtbar machen; der jüdische Friedhof in Zittau sollte zudem international zugänglich werden. „Es leben sehr viele Menschen weltweit verstreut, die etwas mit dieser jüdischen Gemeinde in Zittau zu tun haben – und sei es in der 3. oder 4. Generation. Diese haben aber vielleicht keine Möglichkeit, nach Zittau zu reisen und physischen Zugang zum Friedhof zu erhalten“, erzählt Felix Pankonin über die Idee des Projekts.
Doch wie stellt man sich die Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf einem Friedhof vor? „Die meisten jungen Freiwilligen waren weniger voreingenommen, als man es erwarten würde. Das hat unter Umständen damit zu tun, dass sie weder einen starken persönlichen Bezug zum jüdischen Thema hatten noch eine konkrete Vorstellung davon, wie sie mit dem Thema umgehen sollten“, erzählt Felix Pankonin. Besonders bereichernd für das Projekt sei es dabei gewesen, dass die Teilnehmenden aus verschiedenen Perspektiven auf den Friedhof und die Region blickten, zu der sie mehrheitlich keine räumliche Verbindung hatten.
„Es ist wirklich beeindruckend, hier zu sein, den Ort berühren zu können und die praktische Arbeit zu machen“, beschreibt eine Teilnehmerin ihre Erfahrung später. „Man kann über diese Dinge in Artikeln und Büchern lesen, doch es ist eine komplett andere Erfahrung, selbst an einem historischen Ort zu sein.“
Um die Ergebnisse möglichst zugänglich zu machen, setzte die Hillersche Villa gemeinsam mit ihrem Projektpartner Simon Reuter, freier Berater für Tourismusdestinationen, auf die Methode der sogenannten Kulturerbe-Interpretation – ein Konzept aus dem Tourismusbereich, wonach Besucher:innen über einen persönlichen Zugang besser angesprochen werden sollen. Darüber hinaus arbeitete die Hillersche Villa eng mit den jüdischen Gemeinden der Region zusammen. Dabei entstand auch die Talkshow „Ask a Rabbi. Was du schon immer über jüdisches Leben wissen wolltest, dich aber nie getraut hast, zu fragen!“, deren Name Programm ist: Zuhörende erfahren darin auf unterhaltsame Weise mehr über jüdisches Leben.
Anne Kleinbauer, Historikerin und damalige Projektleiterin, berichtet in einem Podcast: „Es ging bei MAZEWA darum, die jüdische Geschichte der Region nicht nur über Fakten, sondern über Geschichten, also Interpretation, zugänglich zu machen. Das hat den Effekt, dass man die Menschen emotional erreicht, sodass sie den besuchten Ort mit ihrem eigenen Erleben verknüpfen können.“
Dennoch musste die Frage diskutiert werden, ob in einer Methode aus der Tourismusbranche nicht auch eine gewisse Gefahr liege. „An vielen Orten in Europa kann man beobachten, wie jüdisches Kulturerbe mehr und mehr romantisiert wird. Das kann eine extreme Touristifizierung solcher historischen jüdischen Orte zur Folge haben, während das aktuelle jüdische Leben keine Rolle mehr in der Wahrnehmung spielt.“
Auch Felix Pankonin warnt: „Emotionale Betroffenheit sollte nicht zu einer Scheinbeschäftigung mit dem Thema führen, wie es bei Gedenkveranstaltungen häufig zu beobachten ist.“ Auch „MAZEWA“ spreche Menschen auf kreativer Ebene an; die Beteiligten hätten dabei aber Wert darauf gelegt, dass die Fakten stimmten und nicht aus dem Kontext heraus auf etwas geschlossen würde. „Das Projekt vermittelt nur Dinge, die wir wirklich wissen. So kommt eine Erzählung zustande, die authentisch, profund und evident ist.“
Welche Wirkung das Projekt dabei auch auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen hatte, drückt sich in den Worten einer Teilnehmerin aus: „Ich habe mich wie die Überbringerin von Botschaften und Geschichten, die auf dem Friedhof begraben und vergessen waren, gefühlt.“
„MAZEWA“ hat eine wichtige Basis gelegt, um jüdisches Leben im Dreiländereck erfahrbarer zu machen. Dennoch sieht Felix Pankonin mit Blick auf die Zukunft noch Handlungsbedarf: „Projekte der virtuellen Erinnerungs- und Gedenkarbeit arbeiten mit innovativen Ansätzen. Aber für viele Institutionen und Multiplikator:innen bleibt die Frage bestehen, wie die Ergebnisse in die pädagogische Arbeit integriert werden können. Da fehlt meiner Meinung nach noch der nächste Schritt.“ Auch die lokale Bevölkerung müsse noch besser eingebunden werden – zumal in einer Region, in der das Interesse für jüdische Kultur und Geschichte gering ist.
Es gibt bereits Pläne, ein ähnliches Projekt mit dem jüdischen Friedhof in Görlitz umzusetzen, berichtet Felix Pankonin. „Es gibt noch viele alte Synagogen, Friedhöfe und andere Orte jüdischer Geschichte, die heute nicht mehr als das zu erkennen sind, was sie einmal waren. Wir arbeiten an Ideen, diese virtuell zugänglich zu machen.“
Die Idee: „Mazewa“ stammt aus dem Hebräischen und heißt übersetzt „Grabstein“ (Mehrzahl: Mazewot). Das Projekt zielt darauf ab, mehr Aufmerksamkeit für das jüdische Kulturerbe in der Region zu gewinnen und den jüdischen Friedhof in Zittau als einen Ort der Bildung und Erinnerung zu gestalten. Über einen digitalen Rundgang mit Informationen zum jüdischen Leben und Sterben im Dreiländereck ist er nun digital zugänglich.
Die Teilnehmenden haben nicht nur aktiv mit dem Friedhof gearbeitet; sie erhielten zudem im Vorfeld eine Einführung in die Geschichte der Region und des Friedhofs sowie zu verschiedenen, insbesondere jüdisch-deutschen Begräbnistraditionen, und besuchten weitere Orte jüdischen Lebens in Görlitz, Liberec (Tschechien) und im polnischen Sieniawka. Die Ergebnisse werden nun in die weitere Bildungsarbeit der Netzwerkstatt einfließen.
Der Friedhof: Der jüdische Friedhof liegt am nordöstlichen Rand von Zittau, an der Görlitzer Straße. 1887 wurde er eingeweiht und während der NS-Zeit teilweise zerstört. 1938 sprengten die Nationalsozialisten die Trauerhalle, an die nun das von „MAZEWA“ geschaffene Tastmodell erinnert. Die letzte Beerdigung auf dem Friedhof fand 1967 statt. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden sechs Friedhofsschändungen bekannt. Die letzte Schändung ereignete sich 2003 und wurde erst Wochen später entdeckt – ein Umstand, so Anne Kleinbauer und Felix Pankonin, „der bezeichnend für den bisherigen Umgang der Stadt und ihrer Gesellschaft mit ihrem jüdischen Erbe war.“
Projektträgerin: Hillersche Villa gGmbH, Großhennersdorf, Deutschland
Kooperationspartner:
Förderländer: Deutschland
Förderzeitraum: 15. August 2020 bis 30. September 2022
Fördersumme: 39.909 Euro
Autorin: Maria Krell, freie Journalistin