Wenige Formate der historisch-politischen Bildung haben in jüngerer Zeit eine so große öffentliche Debatte ausgelöst wie das von SWR und BR initiierte Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“. Über den Kanal @ichbinsophiescholl konnten User:innen die letzten zehn Monate von Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, mitverfolgen. Prof. Dr. Jens-Christian Wagner, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Medienwissenschaftler Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann und Historikerin Dr. Iris Groschek diskutieren im Folgenden die Pros und Kontras des Projektes.

 

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Aus dem Ruder gelaufen: Das Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“

Von Prof. Dr. Jens-Christian Wagner

Über zehn Monate lief das von BR und SWR verantwortete Instagram-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“. Fast 770.000 Follower:innen hatte der Account am Ende, im Februar 2022 – zwar nicht soviel wie das israelische Projekt „Evas Story“, das wohl Pate stand und 1,2 Mio. Follower:innen hatte, aber für einen rein deutschsprachigen Account doch eine beachtliche Zahl. Jedenfalls erreichte das Projekt deutlich mehr Menschen als alle Social-Media-Kanäle der deutschen Gedenkstätten zusammen.

Das Projekt zeigt damit, dass im Format einer Reanactment-Instagram-Story durchaus Potential steckt, zumindest, wenn es darum geht, neue Zielgruppen zu erreichen (auch wenn das Ziel, vor allem junge Menschen unter 25 Jahren anzusprechen, wohl verfehlt wurde). Entscheidend ist doch aber die Frage, mit welchen Methoden, vor allem aber, mit welchen Inhalten diese Zielgruppen überhaupt erreicht wurden: Was vermittelt die Instagram-Story von Sophie Scholl? Ist sie ein geeignetes Format für das historische Lernen über den Nationalsozialismus?

Die Antwort lautet nein, und zwar aus den Gründen der Emotionalisierung, der Identifikation und der Fiktionalisierung sowie wegen geschichtsrevisionistischer Tendenzen.

Der erste Kritikpunkt betrifft die Emotionalisierung. Emotionen sind nicht per se schlecht, und sie spielen auch beim historischen Lernen eine Rolle, insbesondere, wenn es um dramatische Themen wie die Verfolgung und den Widerstand im Nationalsozialismus geht. Die Emotionalisierung wird aber zum Problem, wenn sie überwältigt (ein Verstoß gegen den für die politische Bildung vor über 40 Jahren erarbeiteten Beutelsbacher Konsens) und wenn sie der Reflexion im Wege steht, wenn also um Opfer getrauert wird, ohne danach zu fragen, warum jemand zum Opfer wurde und wer dafür verantwortlich ist. Noch schwieriger wird es, wenn die Emotionalisierung mit Identifikation und damit mit einer subjektivierenden Perspektive einhergeht. Nicht nur die in der politischen Bildung und Geschichtsdidaktik geforderte Multiperspektivität wird damit untergraben, sondern auch die Quellenkritik: Wer sich mit der historischen Heldin identifiziert, wird kaum hinterfragen, welche tatsächlichen oder vermeintlichen Quellen sie produziert. Hinzu kommt ein politisch-ethischer Einwand: Ist es angesichts des empirischen Befundes des breiten Mitmachens der Deutschen im Nationalsozialismus nicht anmaßend, wenn sich die Post-Tätergesellschaft mit den Opern identifiziert und sich damit gewissermaßen aus der Verantwortung stiehlt?

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner

Was vermittelt die Instagram-Story von Sophie Scholl? Ist sie ein geeignetes Format für das historische Lernen über den Nationalsozialismus? Die Antwort lautet nein, und zwar aus den Gründen der Emotionalisierung, der Identifikation und der Fiktionalisierung sowie wegen geschichtsrevisionistischer Tendenzen.
Prof. Dr. Jens-Christian Wagner

Am schwersten wiegt wohl der Einwand der Fiktionalisierung. Auch sie ist – wie die Emotionalisierung – nicht generell abzulehnen. Fiktionale literarische Werke und Spielfilme haben in den vergangenen Jahrzehnten ganz maßgeblich zur differenzierten gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NS beigetragen. Das Problem liegt also nicht in der Fiktionalisierung als solcher, sondern darin, dass Authentizität mit fiktionalen Elementen (von den Autor:innen von „Ich bin Sophie Scholl“ als „dramaturgischer Kniff“ bezeichnet) simuliert wird. Wenn Fiktion von Fakten aber nicht mehr unterschieden werden kann, bricht eine Grundvoraussetzung der historisch-politischen Bildung zum Nationalsozialismus weg: die auf Quellentreue basierende Glaubwürdigkeit, die der Holocaustleugnung entgegengestellt werden muss. Historische Dokumente, Fotos, Bauten aus der Zeit des Nationalsozialismus sind vor diesem Hintergrund nicht nur Quellen, sondern auch Beweismittel. Und wer Beweismittel nachbildet, fälscht Geschichte potentiell. Fiktion muss deshalb als solche erkennbar sein, und Quellen müssen belegt werden. Beides ist im Scholl-Projekt nicht der Fall (Belege wurden, wenn überhaupt, erst nach Nutzer:innen-Nachfragen im Kommentar nachgereicht).

Schließlich der Vorwurf des Geschichtsrevisionismus: Der Holocaust kommt in der Story nur am Rande vor; im Mittelpunkt steht die Perspektive der Soldaten an der Ostfront. Die Täterschaft verschwindet damit hinter entlastenden Opfernarrativen; irgendwie, dieser Eindruck muss bei den Nutzer:innen entstehen, waren im Krieg doch alle Opfer, ein Narrativ, das auch schon in der ZDF-Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ bedient wurde.

Fazit: Social Media können innovative und partizipative Zugänge Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Opfer bieten und Zielgruppen erreichen, die sonst dafür eher nicht zugänglich sind. Im Fall von „Ich bin Sophie Scholl“ ist aber methodisch und inhaltlich derart viel aus dem Ruder gelaufen, dass man festhalten muss: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Das gilt auch ganz allgemein für den Einsatz neuer und sozialer Medien in der Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus: So richtig es ist, offen zu sein für neue Formate und Methoden (und dabei durchaus auch zu experimentieren), so falsch ist es doch, sich ausschließlich am Medienkonsum junger Menschen zu orientieren, weil man glaubt, man könne sie sonst nicht vorm Smartphone hervorlocken.

Zum Autor: Prof. Dr. Jens-Christian Wagner

Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist Historiker. Seit 2020 ist er Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Geschichte und Geschichten: Instagram und die schwierige Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust auf, durch und mit sozialen Medien

Von Dr. Iris Groschek und Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann

Soziale Medien dienen in unserem digitalisierten Alltag als wichtige Informationsquellen. Sie bieten digitale Kommunikation in Echtzeit. Sie fördern aber auch die Bildung von Echokammern und Filterblasen, sowie die Verbreitung von Falschinformationen. Die Folge kann eine verzerrte Wahrnehmung von sozialen und politischen Konflikten sein. Wenn es um die Auseinandersetzung mit komplexen Lebensrealitäten, und insbesondere mit Geschichte geht, wird die ambivalente Rolle Sozialer Medien ebenfalls deutlich: Mit ihrer Hilfe kann eine größere Öffentlichkeit für historische Themen sensibilisiert und angeregt werden, an der Weiterentwicklung von Erinnerungskultur(en) aktiv mitzuwirken. Vereinfachungen können aber auch problematischen Vergleichen und Gleichsetzungen Vorschub leisten. Wohin führt die Gleichzeitigkeit von direkter, partizipativer, sichtbarer und simplifizierender, vergleichender, spielerischer Aneignung von Geschichtsbildern?

Wenn Holocaust und Nationalsozialismus wichtige Bestandteile der deutschen Erinnerungskultur bleiben sollen, müssen sie auch Platz im unübersichtlichen aber wirkmächtigen Raum der Sozialen Medien finden. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass sich junge Menschen für die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust interessieren und sich wünschen, dass diese Geschichte durch spannende und persönliche Erzählungen, sowie eingängige, idealerweise kurze Formate vermittelt wird. Dazu können Soziale Medien mit ihren fragmentierten Segmenten beitragen, die einerseits losgelöst voneinander beispielsweise als leicht teilbare Memes existieren, andererseits ein miteinander verbundenes Geflecht von Geschichten ergeben. Damit entspricht Storytelling in Social Media dem fragmentarischen Charakter von Erinnerung und kann historische Quellen zum Ausgangspunkt einer aktiven Auseinandersetzung machen.

Das israelische Instagram-Projekt „Eva Stories“ hat 2019 zum ersten Mal auf Grundlage einer historischen Biografie, dem Tagebuch der ungarischen Jüdin Eva Heyman, eine digitale Erzählung realisiert, die der segmentierten und personalisierenden Logik der Sozialen Medien folgt. Für die nachinszenierte Geschichte wurden auch Social-Media-typische Formen wie POV (Point-of-View) oder Selfie-Perspektive adaptiert und mit klassischen Formen der Holocaust-Erinnerung (Zeugenschaft) verbunden. So wurden die Follower:innen der virtuellen Eva zu (sekundären) Zeug:innen ihrer Erinnerungen. Das SWR-Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ (2021/22) hat an einem ähnlichen Punkt angesetzt. Es sollte Sichtbarkeit für die Geschichte der Geschwister Scholl auf einer Plattform wie Instagram schaffen – gerade vor dem Hintergrund dessen, dass als Ikonen wahrgenommene Personen wie Sophie Scholl oder Anne Frank zu einer problematischen Referenz beispielsweise in Kreisen der sogenannten „Querdenker“ geworden sind. Warum gerade der deutsche Widerstand für ein solches Großprojekt auswählt wurde, anstatt die Aufmerksamkeit auf weniger bekannte Geschichten zu legen, darf kritisch gefragt werden, da damit ein deutsches Opfernarrativ bedient und Widerstand gegen das NS-Regime überproportional aufgewertet werden könnte. Folge dieser Fokussierung ist auch eine eingeschränkte Sicht auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges und insbesondere des Holocaust.

Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann und Dr. Iris Groschek

„Ich bin Sophie Scholl“ hat weitere Stimmen mobilisiert, die Lücken des Projekts zu füllen und Perspektiven zu ergänzen. Dafür steht beispielsweise ein Account wie „Nicht Sophie Scholl“, der komplexe historische Informationen und Biografien auf anschauliche Weise aufarbeitet und damit ebenfalls die Möglichkeiten unterstreicht, die eine Plattform wie Instagram für die Vermittlung von Geschichte bietet.
Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann und Dr. Iris Groschek

Die Versuche des Teams um „Ich bin Sophie Scholl“ dennoch Informationen zur Verfolgung von Jüdinnen und Juden aufzunehmen oder z.B. über die Situation von Zwangsarbeiter:innen zu berichten, waren gut gemeint, konnten aber oft nur an der Oberfläche kratzen. Umgekehrt läuft aber auch die Kritik ins Leere, die mehr Hinweise auf diese Ereignisse fordert und gleichzeitig fehlende Quellentreue kritisiert, denn ein solches Projekt muss notwendig unvollständig bleiben. Vergessen werden sollte auch nicht der Netzwerkcharakter Sozialer Medienplattformen. „Ich bin Sophie Scholl“ hat weitere Stimmen mobilisiert, die Lücken des Projekts zu füllen und Perspektiven zu ergänzen. Dafür steht beispielsweise ein Account wie „Nicht Sophie Scholl“, der komplexe historische Informationen und Biografien auf anschauliche Weise aufarbeitet und damit ebenfalls die Möglichkeiten unterstreicht, die eine Plattform wie Instagram für die Vermittlung von Geschichte bietet.

Sowohl „Ich bin Sophie Scholl“ als auch „Eva Stories“ sind keine Projekte von Historiker:innen oder Gedenkstätten. Doch auch Gedenkstätten haben unter Beweis gestellt, dass Soziale Medien zur Geschichtskommunikation gut funktionieren. Instagram, Facebook, Youtube und Twitter wurden vor allem während der pandemiebedingten Schließung zu wichtigen Plattformen, um Zugänge zu historischen Orten und den dort konservierten Geschichten auch aus der Distanz zu ermöglichen. Dabei experimentierten die Macher:innen mit neuen Formen des Storytelling als auch Live-Angeboten und speziellen Online-Führungen. Es zeigte sich, dass es im Hinblick auf die partizipativen Möglichkeiten Sozialer Medien einen Unterschied macht, ob Geschichte nacherzählt, oder Zugänge zur Vergangenheit aus unserer Gegenwart heraus erschaffen werden. Darin liegt auch das Problem eines Projektes wie „Ich bin Sophie Scholl“. Gegen die Grundidee, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust zum Teil unserer sozialen Medienbiografien zu machen, ist wenig einzuwenden. Nutzer:innen wissen sehr wohl zwischen Nachstellung und Dokumentation, subjektiver Geschichtserzählung und Information zu unterscheiden. Aber dazu gehört eben auch Distanz als ein zentrales Element von Geschichtsverstehen. Diese Distanz wurde im Projekt „Ich bin Sophie Scholl“ insbesondere dadurch minimiert, dass die historische Sophie Scholl quasi mit den Nutzer:innen interagierte. Dieser Versuch der Herstellung einer immersiven Illusion von Gleichzeitigkeit unterläuft die Spannung, die auf Sozialen Medienplattformen zwischen Gegenwart und Vergangenheit besteht.

Die Grenzen der Immersion bieten auf Sozialen Medien Chancen: Sie können genutzt werden als Raum zur Partizipation und im besten Fall kreativer Beteiligung. Nutzer:innen und Creator:innen, die Informationen teilen und weiterrecherchieren, eigene Beiträge produzieren, bzw. Initiativen und Akteur:innen, die die Lücken von Großprojekten wie „Ich bin Sophie Scholl“ füllen und neue Perspektiven einführen, machen Soziale Medien erst zu Räumen aktiven Erinnerns. Die Protagonist:innen digitaler Erzählformate haben somit eine vermittelnde, anregende und bewusstmachende Funktion. Wir Nutzer:innen sind es, die sich mit ihren Geschichten konfrontieren und auseinandersetzen, und sie so zu einem Teil unseres Alltags in den Sozialen Medien machen.

Zur Autorin: Dr. Iris Groschek

Dr. Iris Groschek ist Historikerin. Sie arbeitet für die Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen und leitet dort den Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Social Media.

Zum Autor: Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann

Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann ist Medienwissenschaftler. Er forscht und lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem. Er ist wissenschaftlicher Berater der TikTok Shoah Commemoration and Education Initiative und des interdisziplinären Forschungslabors SPUR.lab.

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