Eric Wrasse, Vertreter des Projektes “Weltoffenes Thüringen” und pädagogischer Leiter der Stiftung Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar (EJBW)

Herr Wrasse, Ihr Bündnis “Weltoffenes Thüringen” aus Zivilgesellschaft, Unternehmen und Kirchen hat sich Anfang 2024 aus Sorge um die Demokratie in Ihrem Bundesland gegründet. Was hat sich seitdem getan und wie arbeiten Sie nach der Landtagswahl im Herbst 2024 weiter?

Weltoffenes Thüringen ist das größte und am breitesten aufgestellte zivilgesellschaftliche Bündnis in Deutschland. Allein das ist ein großer Erfolg. Es freut mich, dass über 4.000 Organisationen und nochmal so viele Einzelpersonen sich für ihre Werte öffentlich positioniert haben. Insbesondere auch über 1.500 Unternehmen vom kleinen Handwerksbetrieb bis zu Konzernen wie Jenoptik oder Opel. Sie alle haben ihre Stimme erhoben. Das ist ein ungemein wichtiger Schritt gewesen. Entstanden ist seitdem eine immer enger werdende breite Vernetzung. Menschen, die vorher an ihrem Ort Einzelkämpfer waren, haben gesehen, dass sie nicht alleine sind, Menschen, die sich noch nie zivilgesellschaftlich engagiert haben sind aktiviert worden. Es sind viele Ortsgruppen entstanden, die sich regelmäßig treffen und Strategien und Aktionen entwickeln. Das Logo Weltoffenes Thüringen ist landesweit präsent auf Webseiten, in E-Mail Signaturen, auf social media, an Gebäuden. Es gibt in Jena sogar eine Straßenbahn, die komplett in diesem Design fährt. Es sind neue Verbindungen entstanden zwischen Demokrat*innen in den Städten und dem Land. 

Wie schätzen Sie den Zustand der demokratischen Zivilgesellschaft in Thüringen ein? Nehmen Sie Angriffe auf Mitglieder Ihres Bündnisses wahr?

Die demokratische Zivilgesellschaft in Thüringen hat insbesondere unter der Regierung Ramelow in den letzten 10 Jahren und auch davor unter der CDU eine große Unterstützung erfahren. Es gibt ein von der CDU mitgetragenes Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit, das Netzwerk Demokratiebildung in Thüringen wird vom Land gefördert, der Strukturaufbau bei migrantischen Organisationen unterstützt, wir haben ein Queeres Zentrum in Erfurt etc. Das ehrenamtliche Engagement im Land braucht diese hauptamtlichen und Projektstrukturen, um effektiv zu sein. Insofern ist die Zivilgesellschaft stark trotz mancher Rückschläge durch verzögerte Haushaltsbeschlüsse in den letzten Jahren. Die Zukunft ist jedoch mit einem großen Fragezeichen versehen. Sogar das erwähnte Landesprogramm scheint zur Disposition zu stehen. Das wäre fatal.
Angriffe auf engagierte Personen gibt es überall in Thüringen, die Statistik der Opferberatung ezra belegt, dass sie zunehmen. Auch im Rahmen von Weltoffenes  Thüringen waren Beschädigungen der Banner etc. an der Tagesordnung, eine Person, die ein Videostatement für das Bündnis abgegeben hat, wurde persönlich bedroht etc. Das ist die traurige Realität.

Ende Februar sorgte bundesweit eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion zur politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen für Diskussionen – und heftiger Kritik seitens zahlreicher NGOs, Stiftungen und Wissenschaftler:innen. Aus Thüringen kennen Sie solche Anfragen schon länger von der AfD. Welche Folgen haben diese für die Arbeit Ihrer Bündnispartner:innen und Engagierten vor Ort?

Solche Anfragen sind verheerend und brandgefährlich, keine demokratische Partei sollte sich daran beteiligen. Wir haben uns schon 2019 in der „Weimarer Erklärung für Demokratische Bildungsarbeit“ zum Thema Neutralität positioniert. Sie wurde im Netz von hunderten Organisationen mit unterstützt. Ihr Kernsatz ist „Demokratie ist keine wertfreie Veranstaltung“. Natürlich muss und soll sich die Zivilgesellschaft positionieren und zwar nicht parteipolitisch, sondern FÜR Demokratie, Menschenrechte und gegen Rechtsextremismus und alle Entwicklungen, die ihn befördern wie z.B. gemeinsame Abstimmungen und Absprachen zwischen demokratischen und rechtsextremen Parteien. Die wehrhafte Demokratie lebt von einer wertorientierten Zivilgesellschaft, die den Mund aufmacht. Die in Thüringen als erwiesen rechtsextremistisch eingestufte AfD hat das Thema Neutralität immer wieder benutzt, um Akteure zu verunsichern und eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer völkischen Ideologie zu verhindern. Die Zivilgesellschaft soll mit diesem Thema mundtot gemacht werden. Die Menschen vor Ort sind verunsichert und werden in ihrem Engagement nicht nur durch Gewalt Rechtsextremer behindert, sondern auch noch durch solche Anfragen. Das spielt letztlich einer extremen Rechten in die Hand, welche die demokratische, pluralistische Zivilgesellschaft durch gleichgeschaltet rechtsextreme Organisationen ersetzen möchte, in Ungarn lässt sich das sehr gut beobachten.

 

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