Rund 8.000 Strafverfahren, die während der NS-Zeit vor dem ehemaligen Sondergericht Mannheim verhandelt wurden, gehören heute zum Bestand des Generallandesarchivs Karlsruhe. Unter Einbindung von Schüler:innen wird im Rahmen des Bildungsagenda-Projekts Denunziation-Repression-Verfolgung eine exemplarische Auswahl von NS-Sondergerichtsakten erarbeitet und digitalisiert.

Wie ist die Idee entstanden und warum haben Sie sich für diesen Ansatz entschieden?

Zwischen 2015 und 2019 leiteten meine Kolleg:innen Marion Bodemann, Hendrik Hiss und ich einen schulübergreifenden Seminarkurs zum Thema „Nationalsozialismus in Karlsruhe“. Gemeinsam mit Kunstschaffenden des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien, dem Stadtjugendausschuss Karlsruhe e. V., dem Generallandes- und Stadtarchiv sowie der Schülerakademie Karlsruhe e. V. arbeiteten wir mit Jugendlichen einzelne Aspekte aus der Stadtgeschichte auf und präsentierten die Ergebnisse in Kunstausstellungen. Aus dieser fünfjährigen Kooperation erwuchs auch die Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Frank Engehausen von der Universität Heidelberg.

Nach der Corona-Pandemie wollten wir an den Seminarkurs anknüpfen. Drei Dinge wollten wir jedoch berücksichtigen. Zum einen war es uns wichtig, die lokalen Anknüpfungspunkte zur Lebenswelt von jungen Menschen herzustellen, zum anderen sollte unser Projekt aber auch nicht nur auf Karlsruhe beschränkt, sondern auch auf andere Orte übertragbar sein. Gleichzeitig war uns aber auch bewusst geworden, dass wir die aktuellen Debatten nicht aus dem Blick verlieren dürfen.

Den entscheidenden Impuls lieferte Frank Engehausen: Vor den nationalsozialistischen Sondergerichten wurden von 1933 bis 1945 Delikte verhandelt, an denen das nationalsozialistische Unrechtsregime deutlich zu Tage trat. Es sind Fälle aus dem Alltag der Menschen, die sich quasi „vor der Haustür“ ereigneten. Der Bestand „507 – Sondergericht Mannheim“ umfasst rund 8.000 Fälle aus ganz Baden; etwa 900 kommen aus dem Sondergericht Freiburg noch hinzu. Das war für uns der Anreiz, unsere Idee umzusetzen, mit jungen Menschen vor Ort zu arbeiten – und durch Digitalisate auch Menschen ohne unmittelbaren Archivzugang Einblicke in die Geschichte ihrer Region in Baden zu geben.

Wie schaffen Sie es, die Arbeit mit Akten für Schüler:innen interessant zu machen, und welche Rückmeldungen bekommen Sie in den Workshops?

Jede Akte erzählt die Geschichte eines Menschen, der mit dem nationalsozialistischen Regime in Konflikt geriet – häufig, weil ihn jemand aus dem Umfeld, teils anonym, angezeigt hatte: aufgrund eines Gesprächs in der Kneipe, eines Gerüchts, einer politischen Einstellung, …
Weil es im Nationalsozialismus keinen funktionierenden Rechtsstaat gab, wird das damals begangene Unrecht für die Jugendlichen heute besonders greifbar. Das macht ihnen den Wert demokratischer Strukturen deutlich und regt sie an, über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit nachzudenken.
In den Akten lassen sich oftmals auch sehr persönliche Dokumente und Zeugnisse finden: Gnadengesuche, persönliche Briefe, Schreiben eines Kindes an den Führer, mit der Bitte um Freilassung des Vaters oder der Mutter. 
Manche Fälle lesen sich wie Kriminalgeschichten. In den Workshops versuchen wir schließlich der Frage nachzugehen, wie es uns gelingen kann, Geschichte lebendig werden zu lassen, und welchen Bezug sie zur Gegenwart hat.

Gibt es eine Akte oder ein Urteil, das Sie persönlich besonders bewegt hat?

Es gibt viele Fälle, die mich bewegen, da das Schicksal, das den Angeklagten widerfahren ist, einen nicht unberührt lassen kann. Die menschenverachtende Sprache in den Protokollen der Nationalsozialisten macht mich bis heute sprachlos. Persönlich bewegend wurde es für mich, als ich die Akte meines Großonkels gefunden habe. Gegen ihn wurde wegen eines schlechten politischen Witzes ermittelt; das Verfahren wurde jedoch mangels Beweise eingestellt.
Erschütternd ist auch das Schicksal einer Frau, die nur wenige Straßen von meiner heutigen Wohnung entfernt lebte: Nach dem Urteil des Sondergerichts wurde sie nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Nähere Infos unter: www.sondergericht-mannheim.de

Zur Listenansicht