Die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation hat unseren langjährigen Partner und Projektträger dekoder Ende Mai 2024 zu einer „unerwünschten Organisation“ erklärt. Wir haben mit Leonid Klimov, Wissenschaftsredakteur bei dekoder über die aktuelle Situation und Projektarbeit gesprochen.
Herr Klimov, warum hat die russische Regierung Angst vor dekoder?
Leonid Klimov: Das ist eine schwierige Frage: Wir haben nie gedacht, dass die russische Regierung Angst vor dekoder hat und wir dachten immer, wir sind viel zu klein und nicht auf dem Radar - einfach, weil wir ein Nischenmedium sind.
Gleichzeitig wissen wir nicht, wie die Entscheidungen in Bezug auf die Einstufung als „ausländische Agenten“ oder als „unerwünschte Organisation“ in Russland getroffen werden. Aber wir vermuten, sehr viel Willkür dahinter. Irgendjemanden ist irgendetwas aufgefallen und dann kam ein Stein ins Rollen.
Was bedeutet die Listung als sogenannte „unerwünschte Organisation“ für Sie und Ihre Kolleg:innen persönlich und für Ihre Arbeit?
Leonid Klimov: Es gibt zwei Perspektiven, wie wir darauf schauen. Eine ist ironischer Weise, dass das Label „unerwünschte Organisation“ inzwischen fast zu einer Auszeichnung für gute und unabhängige Redaktionen und Journalist:innen geworden ist. Auf der anderen Seite die möglichen sehr ernsten Konsequenzen für alle Menschen, die mit dekoder zusammenarbeiten, vor allem in Russland. Allein das Teilen von dekoder-Posts in Social Media kann als Verbreitung von Informationen einer unerwünschten Organisation angesehen werden – also eine Ordnungswidrigkeit, die bei der Wiederholung zum Straftat in Russland wird. Das kann mit mehrjähriger Haft bestraft werden.
Was wünschen Sie sich an Unterstützung von der deutschen und europäischen Zivilgesellschaft?
Leonid Klimov: Wir haben eine sehr große, von uns unerwartete, Unterstützung von vielen Seiten gespürt - auch von euch, der Stiftung EVZ.
Von einer anderen Institution haben wir gleich am Tag der Veröffentlichung eine Nachricht bekommen: „Wir spenden euch 5.000 Euro. Wer dekoder finanziell unterstützt, ist für Russland strafbar, in diesem Club möchten wir sein.“ Jenseits von dieser Anekdote spüren wir die steigende Unterstützung durch Spenden von Stiftungen und Leser:innen. Manche Institutionen unterstützen uns auch dadurch, dass sie regelmäßig unsere Inhalte auf ihren Kanälen teilen.
Ich wünsche mir, dass wir mit allen bisherigen Partnern weiterhin zusammenarbeiten können und vielleicht auch einige neue dazukommen. Wichtig ist jedoch, dekoder ist nicht die Organisationen, die am stärksten von russischer Verfolgung und Repression betroffen ist. Wir müssen auch auf diese Organisationen und Personen schauen und sie sichtbar machen und unterstützen. In Russland wie in Belarus.
Stehen Sie im Austausch mit anderen betroffenen Organisationen wie etwa der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde oder MitOst?
Leonid Klimov: Ja, es gibt einen Austausch, vor allem in Bezug auf Sicherheit und Handlungsoptionen. Wir waren in gewisser Weise mental vorbereitet, aber trotzdem fragt man sich: „Was heißt das jetzt für uns? Was sollen wir jetzt machen?“. Da haben wir direkt auch mit betroffenen Organisationen gesprochen, die unsere Erfahrung ja teilen. Dieser Austausch ist wichtig, aber ich möchte nicht, dass das Label „unerwünschte Organisation“ mit seinen möglichen juristischen Konsequenzen den Blick auf dekoder dominiert – im Fokus sollte unsere Arbeit und unsere Projekte stehen.
Die Storytelling-Doku „Der Krieg und seine Opfer“ steht auch auf Ukrainisch und Russisch zur Verfügung: Wen wollen sie mit dem Projekt erreichen?
Leonid Klimov: Für uns war es von Beginn an wichtig, dass die Storytelling-Doku dreisprachig verfügbar ist. Deutsch, Ukrainisch und Russisch: das sind die Sprachen der Haupt-Akteure in unseren Geschichten und dieses Projekt ist für die Gesellschaften von einer großen Relevanz. Wir wollen zeigen, welch verschiedene Blicke es auf den zweiten Weltkrieg gibt und entsprechend auch, wie unterschiedlich Erinnerungskulturen aufgebaut sind.
In Westeuropa liegt der erinnerungskulturelle Fokus auf dem Holocaust und wir möchten sichtbar machen: NS-Verbrechen endete nicht an der Grenze zur Sowjetunion. Und neben Millionen Jüdinnen und Juden gab es viele verschiedene Opfergruppen wie Sinti und Roma, aber auch kranke Menschen, Kinder, Frauen, Kriegsgefangenen, die Massenerschießungen, sexualisierten Gewalt, Verhinderung und zahllosen weiteren Verbrechen ausgesetzt wurden, bis auf die Vernichtung von ganzen Ortschaften.
In post-sowjetischen Ländern liegt der Fokus der Erinnerung nicht primär auf dem Holocaust, sondern auf einer eher konstruierten Opfergruppe des zweiten Weltkrieges: dem sowjetischen Volk. Da wird nicht unterschieden, welche Nationalität die Opfer gehören.
Wir wollen in diesem Projekt die festen erinnerungskulturellen Narrative differenzieren und schauen dafür auf konkrete Protagonistinnen und ihre ganz menschlichen Erfahrungen und Gefühle, die wir faktenbasiert in den Kriegsverlauf einordnen.
Bisher sind fünf Folgen im Projekt erschienen. Können Sie uns einen kleinen Aufblick geben, welche Geschichten als nächstes erzählt werden?
Leonid Klimov: In der aktuellen Folge geht es um die Leningrader Blockade: Protagonistin ist ein 16-jähriges Mädchen, Lena Muchina, die einen Monat vor Kriegsausbruch beginnt ein Tagebuch zu schreiben. Sie ist vollkommen im sowjetischen System mit seiner Propaganda eingebunden und will ein guter „Sowjetmensch“ werden. Und dann kommt der Krieg; in ihrem Tagebuch beschreibt sie weiterhin, was sie im Radio hört. Die Wochen und Monate vergehen und die propagandistische sowjetische Prägung in ihrem Tagebuch wird weniger, wenn die Bombardierung und Belagerung der Stadt beginnt. Die Menschen beginnen sich nur noch ihren Hunger und die Suche nach Lebensmitteln zu fokussieren – ein reiner Kampf ums Überleben. Lena Muchina überlebt, wird später aus der Stadt evakuiert, aber sie bleibt alleine, weil ihre Familienangehörige sterben.
Wir binden diese persönliche Erzählung detailliert und datenbasiert in die Geschichte der Belagerung der Stadt ein.
Welche redaktionellen Standards haben sie sich im Team gesetzt, etwa für die Schilderungen von Gewalt oder auch die Fiktionalisierung von historischen Ereignissen?
Leonid Klimov: Einige Kriterien haben wir für uns ausformuliert: Etwa, wir beschreiben nie Emotionen, wenn es in Quellen nicht dokumentiert wurde, dass diese Gefühle tatsächlich vorhanden waren bzw. wenn diese nicht dokumentiert sind.
Wir nutzen für die Geschichten einen Erzähler, der sehr nah am Protagonisten ist, ihm folgt und die Gefühle der Hauptfigur aus ihrer Perspektive beschreibt.
Weiterhin versuchen wir so wenig Adjektive wie möglich zu nutzen, ein Beispiel: wenn jemand ermordet wurde, dann ist er ermordet worden - dort muss nicht unbedingt grausam ermordet stehen.
Bei den Illustrationen gehen wir sehr sparsam mit der Darstellung von Tod um. Zum Beispiel in der ersten Folge, in der Geschichte vom jüdischen Kaufmann Perets Goldstejn, in der es sehr viele Tote gibt, zeigen wir nicht die Ermordung des Protagonisten explizit. Wenn man ganz genau schaut, findet man am Rande des Bildschirms in der finalen Szene ein kleines Stück von einem Gewehr. In dieser Geschichte – wie auch in der Quelle selbst – entwickelt sich der Konflikt jedoch nicht nur auf der Ebene „Täter-Opfer“. Es ist auch eine Geschichte über den Menschen, der versucht, in Dialog mit dem Gott zu treten und seine Logik nachzuvollziehen.
In der vierten Folge, zu einer sehr jungen ukrainischen NS-Zwangsarbeiterin, haben wir entschieden, den Tod in Illustrationen etwas direkter sichtbar zu machen. Es gibt eine Szene, in der die Protagonistin durch eine Straße gehen soll, wo an jedem Mast Menschen erhängt wurden. Das Mädchen muss durch diese Straße gehen, verfällt in Panik und ihre Tante bindet ihr die Augen zu. Wir fanden, diese starke Szene müssen wir nachzeichnen und sichtbar machen. Über die Darstellung der Gewalt diskutieren wir jedoch jedes Mal erneut und wiegen Argumente ab.