Dr. Elizabeta Jonuz, Professorin für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Migration und Internationales an der Hochschule Hannover

Frau Prof. Jonuz, Sie waren 2021 als Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA) an einem beispiellos umfassenden Bericht zu antiziganistischen Einstellungen in der Gesellschaft beteiligt. Wie blicken Sie heute auf die Arbeit der Kommission? 

Der Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus ist - trotz erstmalig vorgelegter empirischer Grundlagen und fundierter Erkenntnisse – nur ein Anfang eines grundlegenden Perspektivwechsels, der eine Politik der nachholenden Gerechtigkeit erfordert sowie einegezielte Förderung von Partizipation der Selbstorganisationen von Rom:nja und Sinti:ze verlangt. Dank aller der in Deutschland aktiven NGOs von Rom:nja und Sinti:ze, den Gesprächen mit den fünf Dachverbänden von Sinti:ze und Rom:nja sowie den beiden community-basierten Studien zu Rassismuserfahrungen (Randjelović et.al. 2020) und Empowerment (Barz et. al. 2020), konnten die gegenwärtigen Auswirkungen des NS-Völkermordes offenbart werden. Dies gilt für den nach 1945 fortgesetzten Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja ebenso, wie für den strukturellen und institutionellen antiziganistischen Rassismus der Gegenwart. Ob im Kontakt zu Ordnungs- und Sozialbehörden, Polizei, Jugendämtern und Wohnungsämtern, Jobcentern und Arbeitsagenturen, beim Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung kommt es immer wieder zur Verletzung von Grund,-Menschen,-und Bürger:innenrechten. Kinder aus Rom:nja und Sinti:ze Familien erleben Rassismuserfahrungen (Randjelović et.al. 2020) als Sozialisationsinstanz in Deutschland. 

Die Kommission hat zahlreiche konkrete Vorschläge zur Bekämpfung des Antiziganismus erarbeitet - dennoch hat sich laut MIA die Zahl antiziganistischer Vorfälle im letzten Jahr verdoppelt. Welche Vorschläge wurden umgesetzt und wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?

Eine mehr als erfreuliche Umsetzung der UKA-Forderungen ist die seit 2022 erfolgte Berufung des Antiziganismusbeauftragten der Bundesregierung Dr. Mehmet Daimagüler. 2023 wurde der Beirat des Beauftragten gegen Antiziganismus berufen. Dass neben der MIA Bundesgeschäftsstelle in Berlin, fünf weitere Meldestellen in Bayern, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und Sachsen zur Dokumentation rassistischer Vorfälle gegen Sinti:ze und Rom:nja installiert wurden, bildet eine weitere umgesetzte Forderungen der UKA. Alle bestehenden wie auch noch hinzukommenden Melde- und Informationsstellen antiziganistischer/rassistischer Vorfälle müssen auf einer gesetzlichen Grundlage und einer entsprechenden finanziellen Ausstattung, über eine konsequente Strafverfolgung und Ahndung rassistischer/antiziganistischer Straftaten verfügen. Zusätzlich erforderlich ist die Einführung eines Verbandsklagerechts gegen antiziganistischer/rassistischer Vorfälle, wie im Fall des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas durch den geplanten S-Bahnbau. Hierunter fallen aber auch die Diskriminierungstatbestände im Kontakt zu Justiz, Polizei, Jobcentern, Ordnungs-, Sozial- und Schulbehörden, Jugend- und Stadtplanungsämtern und beim Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem. 

Im Juni dieses Jahres haben die Bundesregierung und die Bundesländer die Einrichtung einer ständigen Kommission gegen Antiziganismus beschlossen. Was erhoffen Sie sich von diesem Schritt?

Die Tatsache, dass 79 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus Sinti:ze und Rom:nja massiv von Rassismen betroffen sind, verweist auf ein Versagen deutscher Politik, deutscher Gesetzgebungen und deren Rechtsanwendung. Die Abwehr und Verleugnung dieser Erfahrung ist Teil des Problems, das primär ein strukturelles und institutionelles ist und sich unter anderem in der Verweigerung von Dienstleistungen und Rechtsansprüchen insbesondere in Institutionen wie den Ausländerbehörden, dem BAMF, den Jobcentern, der Polizei und den Gerichten, den Schulen, den Ordnungs- und Sozialbehörden, den Jugend- und Gesundheitsämtern zeigt. Viele Maßnahmen zur Überwindung von Antiziganismus/Rassismus gegen Sinti:ze und Rom:nja fallen in die Zuständigkeit der Länder (Bildung, Justiz, Polizei etc.). Umso wegweisender sind eine optimale Kooperation und Koordination zwischen dem Bund und den Ländern, wie z.B. den Abbau von institutioneller und struktureller Diskriminierung. Eine rassismuskritische Bildungsarbeit und Antidiskriminierungstrainings für Staatsbedienstete verpflichtend einzuführen, hier die spezifischen Formen des Rassismus, die sich gegen Sinti:ze und Rom:nja richten, zu berücksichtigen, wäre gewinnbringend für Sinti:ze und Rom:nja. 

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