Andrii Knyha belebt mit seinem Team das Stadttheater Cherson als „Dritten Ort“: ein offener Raum für Austausch, Lernen und Zusammenhalt. Mit Workshops, kulinarischen Erlebnissen und Angeboten zur mentalen Gesundheit wird es zu einem Ort der Stärke und Anker der Gemeinschaft – unterstützt durch das EVZ-Programm YeMistechko

Welche Rolle spielen Dritte Orte im russischen Krieg gegen die Ukraine? Und wie gelingt es dem Träger, trotz massiver Angriffe neue Zielgruppen anzusprechen und Menschen in einem der am stärksten betroffene Städte des Landes für den Dritten Ort zu gewinnen? Andrii berichtet in einem Kurzinterview über die Situation in Cherson.

1. Am 11. November 2022 befreiten die Streitkräfte der Ukraine die Stadt Cherson von der russischen Armee. Teile der Region auf dem linken Dnipro-Ufer stehen jedoch weiterhin unter russischer Okkupation, und die Stadt wird regelmäßig beschossen. Wie lebt die Bevölkerung der Stadt Cherson heute? 

Ja, leider sind noch immer rund 70 % der Region Cherson besetzt. Auch mein Zuhause liegt in den nach wie vor vorübergehend besetzten Oleschky … Wenn man auf der Karte nachmisst, sind es nur vier Kilometer von Cherson entfernt – über den Fluss Dnipro. Von dort aus beschießen die russischen Besatzungstruppen Cherson täglich. 
Nach der Befreiung von Cherson herrschte zunächst große Aufbruchsstimmung. Alle hofften auf eine baldige vollständige Befreiung der Region Cherson und auf einen schnellen Sieg im Krieg. Doch leider kam es anders. Seit der Befreiung Chersons sind fast drei Jahre vergangen – und die Situation hat sich in dieser Zeit deutlich verschlechtert. 

Heute ist die Stadt täglichen Zerstörungen ausgesetzt, Explosionen sind nahezu stündlich zu hören. Die Aktivität feindlicher Drohnen hat stark zugenommen. Das Schreckliche dabei: Anders als in weiter von der Front entfernten Regionen gibt es hier keine Luftalarme, die – wie bei Raketenangriffen – vorwarnen und etwas Zeit geben, sich in Sicherheit zu bringen. Die Explosionen stammen von Artillerie- und Mörsergranaten, Abwürfen von Drohnen oder FPV-Drohnen vom linken Flussufer. Man hört den Abschuss in der Ferne – und nach vier bis fünf Sekunden schon die laute Detonation. Bei Drohnen ist es noch schlimmer: Man hört sie fast gar nicht, nur die plötzliche Explosion. Leider gibt es täglich Opfer – Verletzte und Tote. 
Trotz allem hält die Stadt stand. Cherson lebt und leistet Widerstand gegen den Feind. 

Derzeit leben in Cherson rund 70.000 Menschen. Manche haben die Stadt nie verlassen und die Besatzung durchgestanden. Andere sind aus zerstörten und verwüsteten Dörfern der Region hierher geflohen. Wieder andere sind trotz der Gefahr aus dem Ausland in ihre Heimat zurückgekehrt. Und alle sagen unisono: Lieber unter Beschuss leben als unter russischer Besatzung. 

2. Der Dritte Ort in Cherson war einer der ersten, die im Rahmen des Programms YeMistechko der Stiftung EVZ unterstützt wurden. Erzählen Sie bitte, wie Ihr Dritter Ort im Theater derzeit funktioniert: Wer besucht ihn, welche Erwartungen haben die Menschen und warum ist dieser Raum für die Gemeinschaft wichtig?

Unser Projekt gehörte zur ersten Welle der Schaffung von Dritten Orten – und wir sind gemeinsam mit all unseren Besucher:innen der Stiftung EVZ sehr dankbar für diese Möglichkeit! Wir haben im Schutzraum des Theaters Renovierungsarbeiten durchgeführt, ihn ausgestattet und die notwendige Technik angeschafft. Seit mehr als einem halben Jahr finden hier nun regelmäßig Veranstaltungen für die Gemeinde statt. 
Unser Dritter Ort wird von unterschiedlichen Menschen besucht: von Jugendlichen, Familien mit Kindern (überwiegend Frauen mit Kindern), Binnenvertriebenen sowie von Einwohner:innen Chersons, die trotz der Gefahr in der Stadt geblieben sind. Für manche ist es eine Möglichkeit, sich zu erholen und von den ständigen Beschüssen abzuschalten, für andere ein Raum zum Lernen oder für kreative Aktivitäten. Für Kinder ist es ein sicherer Ort zum Spielen und zur Entwicklung – viele sind es inzwischen gewohnt, einfach hierherzukommen, um zu spielen, ihre Geräte aufzuladen oder sich Zeichentrickfilme anzusehen. 

Die Erwartungen der Besucher:innen sind meist einfach, aber zugleich von großer Bedeutung: einen Raum zu haben, in dem man zusammenkommen, Unterstützung und Gemeinschaft erfahren, miteinander sprechen, Neues lernen und einfach spüren kann, dass das Leben weitergeht, dass die Stadt lebt. 
Dieser Raum ist für die Gemeinschaft von unschätzbarem Wert geworden, weil er hilft, Normalität unter unnormalen Bedingungen zu bewahren. Er vermittelt ein Gefühl von Schutz, Gemeinschaft und Unterstützung – und genau das brauchen die Menschen in Cherson heute so dringend.  

3. Am Beispiel von Cherson – einer Stadt, die täglich ihr Recht auf Existenz verteidigt – warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, ukrainische Gemeinschaften nicht nur humanitär, sondern auch mit soziokulturellen und politischen Projekten zu unterstützen, und wie sehen Sie die Entwicklung dieses Raums oder der Dritten Orte in der Zukunft? 

Die Unterstützung sozio-kultureller und politischer Projekte in Städten, die unter Beschuss stehen, ist ein Beitrag zur menschlichen Würde und zur Zukunft. Krieg zerstört nicht nur Gebäude – er löscht auch Begegnungsorte, Traditionen, Rituale und die Möglichkeit aus, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Wenn Kultur verloren geht, verliert man Erinnerung, das Gefühl von Heimat und die Kraft zur Erneuerung. Deshalb darf Hilfe nicht nur materiell sein: Die Menschen brauchen Orte, an denen sie heilen, einander begegnen, wieder lernen können, nebeneinander zu leben und die durch den Krieg verlorenen Gemeinschaften neu aufzubauen. 

Unser Dritter Ort im Theater ist nicht nur ein renovierter Schutzraum mit technischer Ausstattung. Er ist ein Raum, in dem Frauen bei einer Tasse Tee ihre Sorgen ohne Angst teilen können, in dem Kinder lachen und malen, in dem Menschen sich ein Stück Alltag zurückholen. Wir erleben, wie hier Vertrauen entsteht: Menschen kommen wegen einfacher Dinge – um das Handy zu laden oder einen Zeichentrickfilm zu schauen – und bleiben dann für ein Gespräch, einen Workshop oder eine freiwillige Initiative. Diese kleinen Rituale sind die stärkste Gegenkraft zum Krieg, weil sie die Menschlichkeit bewahren. 

Für die Zukunft träume ich von einem Netzwerk solcher Orte in der gesamten Region: stationäre Zentren in den Städten und mobile Hubs in den Dörfern. Sie sollen humanitäre Unterstützung mit Bildungs-, Kreativ- und Bürgerprogrammen verbinden, lokale Teams qualifizieren und Wege finanzieller Nachhaltigkeit aufzeigen. Eine solche Investition erleichtert nicht nur den Alltag – sie gibt den Menschen die Grundlage, ihre Gemeinschaften wiederaufzubauen und Freude sowie Hoffnung zurückzugewinnen. 

Denn am Ende beginnt der Wiederaufbau nicht mit Beton und Ziegeln, sondern mit der Rückkehr vertrautem Lächeln, Begegnungen und der Möglichkeit, gemeinsam Neues zu schaffen.

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