© Laurent Hoffmann
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Stiftung EVZ: Wo sehen Sie die größte Herausforderung für Erinnerungsarbeit und politische Bildung im digitalen Raum bzw. auf Social-Media-Plattformen?
Gina Wiedemann: Die größte Herausforderung sind die Unternehmen hinter den Plattformen. Wir brauchen Algorithmen, die nicht gegen uns, sondern mit uns arbeiten – die unsere demokratischen und bildungsbezogenen Inhalte verbreiten.
Außerdem brauchen wir Unterstützung durch Gesetzgebung und fördernde Institutionen. Es braucht eine nachhaltige Finanzierung für Projekte, die Social Media als Strategie begreifen – und nicht nur als ein „nice to have“.
Stiftung EVZ: Was sind Ihre Strategien und Best Practices im Umgang mit diesen Herausforderungen?
Gina Wiedemann: Wir erstellen Peer-to-Peer-Content: Wir binden junge Menschen in unsere Kommunikation für junge Menschen ein – sonst ergibt das keinen Sinn, es wirkt einfach nur cringe.
Wir versuchen außerdem, so authentisch wie möglich zu sein und hören auf unsere Community. Wenn es Feedback gibt, nehmen wir es ernst. Wir möchten in den Dialog mit den Menschen treten, die unsere Videos sehen und kommentieren.
Stiftung EVZ: Wie gehen Sie mit Hasskommentaren um?
Gina Wiedemann: Wir bekommen viel Hass ab. Dafür braucht man ein gewisses Rückgrat. Nicht jeder Kommentar ist valide. Wenn wir Hasskommentare mit unbegründeter Kritik bekommen, hören wir nicht darauf. Wenn es sich um Hassrede handelt, löschen wir sie.
Social Media ist am Ende ein Schlachtfeld – und wir versuchen, diesen Kampf für die Demokratie zu gewinnen. Das ist das Rückgrat unserer Arbeit.
Stiftung EVZ: Was brauchen wir von der Politik und der Zivilgesellschaft, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Gina Wiedemann: In den sozialen Medien sagen 90 % der Menschen nichts. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute kommentieren. Wenn sie Hassrede, Fake News oder Desinformation sehen, sollten sie etwas sagen oder den Beitrag melden. Das wäre großartig.
Stiftung EVZ: Was haben Sie heute bei der #5YPRI-Veranstaltung gelernt?
Gina Wiedemann: Vor allem durch das Gespräch auf dem Panel mit Anna Lenchovska, der Leiterin der NGO Tolerspace in Kiew, habe ich gelernt, dass Erinnerung und die Art, wie wir über Gedenken sprechen, in anderen Ländern sehr unterschiedlich sein kann – besonders, wenn das eigene Land im Krieg ist.
Junge Menschen betrachten Erinnerung anders, wenn sie selbst Krieg erleben. Das nehme ich auf jeden Fall mit.
Auch das Gespräch mit Paweł Sawicki über Auschwitz war bereichernd. Die Art, wie er seine Arbeit macht, erreicht Millionen. Seine Entscheidungen – etwa, ob er X verlässt oder nicht – haben Auswirkungen auf die weltweite Erinnerungskultur. Auch das nehme ich mit.
Stiftung EVZ: Was fehlt Ihrer Meinung nach in der Diskussion?
Gina Wiedemann: Was mir in der Debatte über Erinnerungskultur fehlt, ist ein Funke Aktivismus. Wir sprechen oft sehr akademisch darüber – was auch daran liegt, dass das Thema aus dem akademischen Bereich kommt.
Aber es gibt so viele junge und leidenschaftliche Menschen, die sich engagieren. Ich finde nicht, dass man eine wissenschaftliche Ausbildung braucht, um sich ehrenamtlich zu engagieren oder in der Erinnerungsarbeit aktiv zu sein.
Das fehlt oft in Diskussionen – besonders auf Panels. Wir müssen jungen Menschen vor Ort, die aktiv Projekte umsetzen, eine Stimme geben
Stitung EVZ: Wo sehen Sie die größte Herausforderung für Erinnerungsarbeit und politische Bildung im digitalen Raum bzw. auf Social-Media-Plattformen?
Anna Lenchovska: Es gibt zwei große Herausforderungen. Die erste ist, dass soziale Medien auf emotionaler Ansprache basieren. Sie sind darauf ausgelegt, Emotionen auszulösen und Nutzer:innen über emotionale Inhalte zu binden. Das führt oft dazu, dass sich Menschen in sogenannten „Bubbles“ bewegen – also in geschlossenen Umfeldern, in denen nur eine sehr eingeschränkte Sichtweise dargestellt wird. Diese spiegeln nicht die vielfältigen gesellschaftlichen Narrative wider, sondern oft nur eine einseitige Perspektive.
Die zweite Herausforderung – besonders für Jugendliche – sind Influencer:innen. Das kann eine Herausforderung, aber auch eine Chance sein. Manche prominente Stimmen in den sozialen Medien transportieren wichtige Botschaften über Erinnerung, über Werte wie Diversität, Menschenrechte und über den Einsatz für Demokratie.
Aber Influencer:innen können auch problematische Inhalte verbreiten. In der Ukraine beobachten wir zudem, dass immer mehr junge Menschen niemandem mehr in sozialen Netzwerken vertrauen. Das wirft für mich die Frage auf: Wie entsteht Vertrauen im realen Leben? Vertrauen ist etwas, das wir dringend neu aufbauen müssen – in unserer kriegsbetroffenen Gesellschaft, aber auch international und in Europa.
Stiftung EVZ: Was sind Ihre Strategien und Best Practices im Umgang mit diesen Herausforderungen?
Anna Lenchovska: Wir arbeiten mit einem Peer-to-Peer-Ansatz. Studien zeigen, dass Jugendliche eher ihren Altersgenoss:innen vertrauen als Erwachsenen. Deshalb laden wir interessierte Jugendliche ein, bei uns ein Praktikum zu machen. Gemeinsam mit unseren Redakteurinnen und Expert:innen erstellen sie digitale Inhalte.
Oft sind sie überrascht, dass nicht jedes Bild, das sie im Internet finden, tatsächlich die dargestellten historischen Ereignisse zeigt. Manchmal stammen Bilder aus völlig anderen Kontexten oder anderen Tragödien. Sie lernen bei uns, Originalquellen zu finden, korrekt zu zitieren und visuelle Inhalte kritisch zu hinterfragen.
Gleichzeitig bringen viele Jugendliche eine Art „Schulhaltung“ mit – sie sind sehr ernst und fast steif, wenn es um Themen wie Geschichte oder Tragödien wie den Holocaust, den Genozid an den Roma, Zwangsarbeit oder Diskriminierung geht. Wir arbeiten mit ihnen daran, authentischer zu sein und sich zu trauen, sie selbst zu bleiben – auch beim Umgang mit schwierigen Fragen.
Stiftung EVZ: Was brauchen wir von der Politik und der Zivilgesellschaft, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Anna Lenchovska: Politik und Zivilgesellschaft müssen eng zusammenarbeiten, um neue Regeln für den Umgang mit der digitalen Welt zu entwickeln – insbesondere im Hinblick auf Meinungsfreiheit.
Wir sehen, wie manche Staaten Zensur nutzen, um alle Freiheiten des Menschen einzuschränken und eine parallele Realität zu erschaffen. Andererseits beobachten wir in Ländern Europas, dass die Gesetzgebung so langsam reagiert, dass sie aktuellen Herausforderungen wie Hassrede, Leugnung, Falschinformationen und Propaganda kaum begegnen kann.
Deshalb braucht es Zusammenarbeit – zwischen Politik, Zivilgesellschaft und Technologieunternehmen wie Meta, X und anderen großen Plattformen. Sie müssen gemeinsam nach Lösungen suchen.
Stiftung EVZ: Wo sehen Sie die größte Herausforderung für die Erinnerungsarbeit und politische Bildung im digitalen Raum bzw. auf Social-Media-Plattformen?
Paweł Sawicki: Die größten Herausforderungen ergeben sich aus dem, was soziale Plattformen im Kern sind. Sie verändern unsere Art zu kommunizieren. Wir erleben eine zunehmende Polarisierung und die Ausbreitung von Hassrede im digitalen Raum.
Während es relativ einfach ist, authentische, physische Gedenkorte zu schützen, wenn Menschen vor Ort sind, ist der digitale Raum viel schwerer zu kontrollieren – und doch müssen wir es versuchen.
Auch die Herausforderungen durch neue Technologien sind sehr real: KI-generierte Inhalte, Fake News und Desinformation nehmen zu. Wir müssen diese Themen offen ansprechen und über digitale Kompetenz sprechen, insbesondere im Hinblick auf Geschichte und deren Verzerrung.
Wir brauchen starke Netzwerke, Zusammenarbeit und gegenseitiges Lernen, um neue Strategien zu entwickeln, mit denen unsere Botschaften die Menschen erreichen.
Stiftung EVZ: Welche Strategien und Best Practices haben Sie entwickelt, um mit diesen Herausforderungen umzugehen?
Paweł Sawicki: Am Auschwitz Memorial haben wir ein ganzes Umfeld an digitalen Bildungsinhalten aufgebaut, das online zugänglich ist.
Ein Ziel unserer Arbeit in den sozialen Medien ist es, Menschen aus den feindseligeren und unkontrollierbaren Bereichen des Internets – in denen wir keinen Einfluss auf Algorithmen haben – herauszuholen und in unsere eigenen digitalen Räume zu führen: auf unsere Website, zu unseren Bildungsangeboten.
Dort können wir einen respektvollen und sicheren Umgang mit den Geschichten gewährleisten, die wir bewahren.
Stiftung EVZ: Was brauchen wir von der Politik und der Zivilgesellschaft, um diesen Herausforderungen zu begegnen?
Paweł Sawicki: Soziale Plattformen haben sich zu globalen Konzernen entwickelt, die von Algorithmen gesteuert werden, die kaum jemand wirklich versteht. Und doch prägen sie, wie wir die Welt wahrnehmen. Leider wurden diese Plattformen nicht entwickelt, um uns klüger zu machen – sondern um Engagement zu erzeugen.
Diese Logik des Engagements trägt zur Polarisierung bei. Die Geschichten, mit denen wir arbeiten – wie Auschwitz, der Holocaust oder andere Verbrechen – können in einem so polarisierten Umfeld nicht sinnvoll vermittelt werden. Es handelt sich um komplexe, nuancierte Geschichten. Doch die Plattformen verschlechtern häufig die Qualität des Dialogs, den wir führen können.
Wir können Bewusstsein schaffen, unser Publikum aufklären und ihnen helfen, Manipulation und Verzerrung zu erkennen. Aber als Institutionen reicht es nicht, allein unsere Stimme zu erheben. Die Plattformen selbst müssen Verantwortung übernehmen – was sie derzeit nicht tun.
Hier kommt Regulierung ins Spiel – durch Regierungen oder internationale Organisationen wie die Europäische Union. Wenn unsere Regierungen ihre Bürger:innen im öffentlichen Raum oder im Bildungssystem schützen wollen, müssen sie auch den digitalen Raum ernst nehmen. Auch das muss Teil ihrer Verantwortung sein.



