Die Projekte im Förderschwerpunkt „Transfer“ zielen auf sensibilisierende und Wissen schaffende Lernerfahrungen in der Arbeitswelt ab. Ausgehend von der berufsgruppenspezifischen Beschäftigung mit NS-Unrecht und dessen Fortwirkungen werden Handlungskompetenzen im Umgang mit gegenwärtigen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf- und ausgebaut.
Ein Beispiel dafür: das Projekt „Lernen aus Akten“ des Verbands Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern und des Lehrstuhls Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Das Projekt digitalisiert Entschädigungsakten von Sinti:ze und Rom:nja, wertet sie wissenschaftlich aus und erarbeitet Bildungsmaterialien.
Über Herausforderungen, Überraschungen und Erkenntnisse ihrer gemeinsamen Arbeit sprachen wir mit Markus Metz vom bayerischen Landesverband Deutscher Sinti und Roma und Leonard Stöcklein von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Herr Metz, wie liefen die ersten Monate in Ihrem Projekt seit der Bewilligung? Welche Meilensteine konnten bereits umgesetzt werden?
Metz: Die ersten Monate haben wir genutzt, um uns organisatorisch vorzubereiten. Zuerst wurden die studentischen Hilfskräfte akquiriert, die das Projekt ganz wesentlich tragen. Der eigentliche Start war Anfang Januar 2024: Da begannen die studentischen Hilfskräfte mit Hochleistungsscannern die Akten, die wir hier im Landesverband archiviert haben, zu digitalisieren – mit einem Wahnsinnstempo, trotz mancher Hürden. Bis Anfang April konnten wir bereits 300 von 1.000 Akten einscannen. Das ist ein Drittel des Aktenbestands des Landesverbands, den wir so dauerhaft erhalten und auszugsweise didaktisieren wollen.
Warum sind „Wiedergutmachungs“-Akten wertvolle Quellen für die Bildungsarbeit zum Thema NS-Unrecht?
Stöcklein: Aus zwei Gründen: Erstens kann man aus den Akten heraus die Verfolgungsschicksale von Menschen rekonstruieren. Bei den ersten 300 Akten fiel auf, dass sie mehrheitlich von Verfolgungsschicksalen von Sinti:ze und Rom:nja aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien handeln – Taträume und Biografien, die wissenschaftlich bisher kaum erforscht und bei der Erinnerung an den Völkermord an Sinti:ze und Rom:nja kaum Raum einnehmen.
Zweitens dokumentieren die Akten eindringlich die Zeit des „zweiten Unrechts“ in den 1950er- und 1960er-Jahren: Sinti:ze und Rom:nja wurden oftmals erneut kriminalisiert, der Völkermord an ihnen geleugnet und die Täter:innen saßen wieder an den Schaltstellen der Macht, sei es im Gericht oder in Behörden.
Die Akten dokumentieren diese fortgesetzte Ungerechtigkeit und Ausgrenzungsstrategien gegenüber Sinti:ze und Rom:nja. Wie diese nahtlos nach 1945 fortwirkten und wie daraus strukturelle Ausgrenzung auch im Rahmen von „Wiedergutmachungs“-Verfahren entstehen konnte – das können wir aus den Akten lernen.
In dem Projekt arbeiten auch vier Studierende mit: Welche Rückmeldungen bekommen Sie von ihnen?
Stöcklein: Die Reaktion der Studierenden ist zuerst Entsetzen, Unverständnis und Kopfschütteln über den Umgang mit den Opfern in den Behörden und Gerichten. Daraus entsteht der Wunsch, zu verstehen, wie dieser Umgang begründet wurde. Die studentischen Mitarbeitenden beschäftigen sich auf der einen Seite intensiv mit den Verfolgungsschicksalen. Die Akten vermitteln anhand von Personen konkret, was NS-Unrecht für Sinti:ze und Rom:nja bedeutete. Andererseits werden in der Auseinandersetzung über materielle „Wiedergutmachung“ menschliche Schicksale in Paragrafen, in Zahlen und in ein Amtsdeutsch hineingepresst Dies sollte zwar grundsätzlich einen finanziellen Ausgleich ermöglichen, endete in der Realität jedoch manchmal in einer fast zynisch anmutenden Verkehrung des staatlichen Auftrags. Beide Ebenen, die der Verfolgung und Vernichtung sowie die Auseinandersetzungen nach 1945, lernen die Studierenden anhand einer Akte kennen. Wir lernen übergeordnet: Es gab 1945 für die Überlebenden keine „Stunde Null“ und alles war plötzlich anders. Die nationalsozialistische Verfolgung von Sinti:ze und Rom:nja hat Auswirkungen und Folgen bis in die Gegenwart.
Metz: Für mich ist es sehr lehrreich und eine völlig neue Erfahrung, Außenperspektiven auf das Thema „Wiedergutmachung“ kennenzulernen. Ich beschäftige mich seit fast drei Jahrzehnten mit diesem Thema. Da hat man mit der Zeit einen Tunnelblick und stumpft ab. Ich bin es leider gewohnt, dass Entschädigungsbehörden empathielos mit den Verfolgten umgegangen sind; dass gerade in den 1950er- und 1960er-Jahren auch juristische Winkelzüge angelegt wurden, um die Menschen um ihre Ansprüche zu bringen. Sie wurden entmutigt, abgelehnt und nicht selten entwürdigt – das prägt Menschen. Es ist mir wichtig, darüber mit einer jungen Generation ins Gespräch zu kommen, zu vermitteln, was im Umgang mit Opfern des NS-Unrechts nicht sein darf. Das ist ein großer Wert dieses Projekts.
Nach all diesen Erfahrungen: Warum haben Sie im Förderprogramm Bildungsagenda NS-Unrecht Ihre Projektidee als Antrag eingereicht? Es wird aus Mitteln des Bundesministeriums der Finanzen finanziert, das die „Wiedergutmachungspolitik“ der Bundesrepublik über Jahrzehnte wesentlich mitprägte.
Metz: Für uns ist es zum einen eine große Chance: Mit dem Projekt können wir unser Erbe, den Kampf um eine gerechte „Wiedergutmachung“ für Sinti:ze und Rom:nja, in Form von digitalisierten Akten der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Damit werden das Lernen und auch die Auseinandersetzung mit dem Thema möglich. Das verweist auf die andere Seite: Die Förderung begreifen wir als ausgestreckte Hand, die wir nicht ausschlagen möchten. Seit Jahrzehnten arbeiten wir mit den Entschädigungsbehörden zusammen – in der Regel als Gegner, die sich auch vor Gericht begegnen. Aber beide Seiten sind inzwischen auch im Austausch über die gemeinsame schwierige Geschichte der Entschädigungen. Dazu nutzen wir die Akten, welche vor allem für eine jahrzehntelange Auseinandersetzung stehen. Jetzt wollen wir gemeinsam aus diesen Akten lernen.
Ich verstehe daher das Förderprogramm auch als ein spätes Bekenntnis der Bundesregierung. Das nehme ich ernst und will es nutzen.
Spiegelt sich dieser gemeinsame Wille auch in der Zusammenarbeit des Projekts mit dem bayerischen Landesamt für Finanzen wider?
Metz: Als wir das erste Mal mit unserer Projektidee auf das Landesamt zugingen, stießen wir auf eine gewisse Vorsicht, aber nicht auf Ablehnung. Die Besorgnis des Amtes war, dass wir ehemalige Mitarbeiter:innen aus der jüngeren Vergangenheit namentlich nennen und so bloßstellen. Aber das ist gar nicht unser Interesse. Wir wollen die Geschichte der „Wiedergutmachung“ aufzeigen und was man aus ihr lernen kann.
Stöcklein: Ziel ist, mit Bildungsmaterialien zu dieser Geschichte der „Wiedergutmachung“ das Wissen um die damit verbundenen Prozesse zu stärken, aber auch Empathie und Sensibilität gegenüber den Betroffenen zu schaffen. Dieses Angebot richten wir explizit an Mitarbeitende von Entschädigungsbehörden, deren Arbeit ja noch nicht zu Ende ist. Unsere Bildungsmaterialien werden darüber hinaus für die außerschulische Bildungsarbeit konzipiert: zum Beispiel für Gedenkstätten, die juristische Ausbildung oder Fortbildungen in Verwaltungseinrichtungen. Von den 1.000 digitalisierten Akten werden wir 10 bis 15 paradigmatische Fälle für die Bildungsmaterialien aufarbeiten und die Prozesshaftigkeit von Geschichte anhand der Schicksale deutlich machen. Ziel sind die Förderung eines kritischen Geschichtsbewusstseins und die Sichtbarmachung der Multiperspektivität hinter Entschädigungsakten. Wir wollen die Perspektive der verfolgten Personen sichtbar machen, aber auch die entscheidenden Personen in Behörden und deren Handeln in den 1950er- und 1960er-Jahren aus der Anonymität reißen.
Zusätzlich werden wir ein Glossar entwickeln, um in die komplexen rechtshistorisch relevanten Gesetze einzuführen und sperrige Begriffe wie „Bundesentschädigungsgesetz“ oder „Wiedergutmachungs-Dispositions-Fonds“ zu erklären und historisch zu kontextualisieren.
Gibt es persönliche Geschichten aus den Akten, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Stöcklein: Jede Akte für sich ist individuell, aber einen Fall kann ich einfach nicht vergessen: Ein Sinto war mehrere Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert und hat verschiedene Anträge auf Entschädigung gestellt. Sein Antrag auf eine Entschädigung für Schaden an Eigentum und Vermögen – er stellte ihn, weil ihm im KZ seine Kleidung weggenommen wurde und er nach der Befreiung mit nichts weiter als seiner Häftlingskleidung auf der Straße stand – war zunächst „erfolgreich“. Er erhielt eine Entschädigung von 250 DM. Dann aber hat er einen Antrag auf Soforthilfe für Rückwanderer gestellt, weil er nach der Befreiung nach Deutschland zurückreisen musste, und die 250 DM wurden ihm wieder verrechnet.
Neben dem Förderprogramm Bildungsagenda NS-Unrecht finanziert das Bundesministerium der Finanzen den Auf- und Ausbau eines großen Themenportals „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts“, das unter anderem vom Bundesarchiv getragen wird. Wie arbeiten Sie mit diesem Portal zusammen?
Stöcklein: Das Themenportal befindet sich noch im Aufbau zu einem umfassenden Recherche- und Informationsort. Hier werden bundesweite Archivbestände zu „Wiedergutmachungs“-Akten gebündelt. Die von uns digitalisierten Akten werden dort nicht direkt digital abrufbar sein, dies ist aufgrund archivrechtlicher Vorschriften und aus Datenschutzgründen nicht möglich. Aber wir erfassen Informationen aus den Akten, die später in eine Informationsdatenbank des Bundesarchivs übertragen werden und über eine öffentliche Suchmaschine abrufbar sind. Wir werden also ein kleiner Bestandteil des Themenportals sein, das ja in einem viel größeren Umfang die Geschichte der „Wiedergutmachung“, nicht nur für die Opfergruppe der Sinti:ze und Rom:nja, erschließen und die dafür vorhandenen Quellen für die Forschung nutzbar machen will.
Das Gespräch führten Jens Schley und Sophie Ziegler, Stiftung EVZ.