Die multimediale Wanderausstellung „Kulturretter:innen“

Die multimediale Wanderausstellung „Kulturretter:innen“

Projekte im Förderschwerpunkt „Bilden in kulturellen Räumen“ eröffnen einzigartige, Empathie fördernde und kreative Zugänge zur komplexen Geschichte der Verfolgung im Nationalsozialismus und zum künstlerischen Erbe der NS-Opfer.

Ein Beispiel dafür ist die multimediale Wanderausstellung „Kulturretter:innen“. Das Projekt erzählt von Menschen, die seit der NS-Zeit kulturelle Gegenstände, Familiengeschichten oder Musik gerettet und so dem Vergessen entrissen haben. Mit einem interaktiven und zeitgemäßen Zugang wird Geschichte zugänglich und inspiriert junge Menschen.

Was würdest du retten und was ist Kultur für dich? Mit dieser Frage zieht die Ausstellung der KOOPERATIVE BERLIN die Besucher:innen direkt am Eingang in ihr Thema hinein: Auf Postkarten sind mögliche Antworten angepinnt und bieten den Anfangspunkt für den Gang durch die Ausstellung.
Wie ein Netz sind die vier Kapitel Mut, Hoffnung, Leben und Gedenken miteinander verwoben: Sie erzählen die persönlichen Geschichten von acht Kulturretter:innen aus vier Generationen. Einst versteckten sie Diamanten und verteilten heimlich Flugblätter, heute retten sie Musik vor dem Vergessen, verarbeiten Erinnerungen in Kurzgeschichten und Comics, erforschen Familiengeheimnisse und verlegen Stolpersteine.

Der Eindruck ist nicht zufällig: „Kultur ist wie ein Netz, das uns mit anderen Menschen verbindet“, betont Ljiljana Heise, die Kuratorin der Ausstellung. Im Nationalsozialismus ist unser Kulturnetz massiv beschädigt worden. Mit der Verfolgung und Ermordung von Menschen wurde auch Kultur zerstört und geraubt. Die Kulturretter:innen haben dieses Netz mit ihrem Mut und Engagement wieder, so gut es ging, geflickt – und sie schildern Geschichten von Verfolgung und Ausgrenzung, von Verlust und Schmerz. Aber es sind auch Geschichten des Widerstands, die von Mut und Kampf um Anerkennung zeugen.

Eine dieser Geschichten erzählt die Journalistin Nora Hespers: Sie wächst mit der Erzählung ihres Vaters Dirk auf, dass die Nationalsozialisten ihren Opa Theo erhängt haben. Ihr Vater singt Widerstandslieder und setzt sich sein Leben lang für das Andenken seines Vaters ein – wenig erfolgreich. Jahrzehnte später erforscht Nora Hespers das Schicksal ihres Großvaters, liest Verhörakten, produziert einen Podcast und schreibt ein Buch.
Bei der Eröffnung der Ausstellung in Leipzig singt sie das Widerstandslied „Mein Vater wird gesucht“. Es ist ein eindringlicher und emotionaler Moment, der zeigt, welche Wirkung gerettete Kulturgüter wie Musik heute noch entfalten.

Hans Drach

Mein Vater wird gesucht,
er kommt nicht mehr nach Haus.
Sie hetzen ihn mit Hunden,
vielleicht ist er gefunden
und kommt nicht mehr nach Haus.
Hans Drach
1935

Den Bogen zur Gegenwart spannt das Projekt, indem es Initiativen wie das Hilfsnetzwerk für Überlebende der NS-Verfolgung in der Ukraine einbezieht, das im März 2022 als Reaktion auf den ausgeweiteten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ins Leben gerufen wurde.

Auch Olena Vypryzka aus Dnipro in der Ukraine ist eine Kulturretterin, seit 2004 hilft sie Überlebenden der NS-Verfolgung in ihrer Heimat. Sie besucht ältere Menschen, hilft ihnen im Haushalt, geht für sie einkaufen und am wichtigsten: Sie spricht mit ihnen und hört ihnen zu – etwa der Geschichte von Isabella Jelnikowa. 1943, mit 16 Jahren, musste sie mit anderen Jugendlichen aus ihrem Dorf in einen Viehwaggon steigen. Sie kam nach Dresden und musste dort Zwangsarbeit als Haushaltshilfe leisten – jeden Tag von 4:30 bis 23 Uhr. Aber Isabella Jelnikowa überlebte und kehrte in ihre Heimat zurück, wo sie jedoch erneut Verfolgung erleben musste.

Olena Vypryzka erklärt: „Nur eines von zehn Kindern und Jugendlichen überlebte die Zwangsarbeit in Deutschland. Doch die Zurückkehrenden wurden in der Sowjetunion als Verräter:innen betrachtet und werden noch heute benachteiligt.“

Eine weitere Geschichte erzählt Eva Weyl, die, ohne es zu wissen, Diamanten vor den Nationalsozialisten rettete.
Mit sechs Jahren wurde sie 1942 mit ihren Eltern in das Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden deportiert, wo die Nazis deutsche und niederländische Jüdinnen:Juden internierten. Heimlich nähte die Mutter Diamanten in Evas Mantelknöpfe – niemand entdeckte sie und die Familie überlebte. Später ließ die Mutter daraus einen Ring anfertigen, den Eva bis heute jeden Tag trägt.
Heute engagiert sich Eva Weyl unermüdlich als Zeitzeugin, spricht mit Schüler:innen über ihre Erlebnisse und mahnt: „Wir leben alle in einer luxuriösen Welt. Denkt nach, wie andere es haben. Versucht, was Gutes zu tun. Rettet jemanden.“

Insbesondere für junge Menschen bietet die Ausstellung neben einem Rahmenprogramm mit Zeitzeug:innen-Gesprächen einen niedrigschwelligen Zugang zu den Themen Aufarbeitung und Ausgrenzung: Sie erleben die Geschichten der Kulturretter:innen in Videos, Graphic Novels, Hörspielen und interaktiven Stationen.

Und was würden die Besucher:innen retten? Auf den Postkarten nennen sie kulturelles Erbe wie Gedichte und Theaterstücke, persönliche Erinnerungen wie Fotos und Rezepte, aber auch die Gedächtnisse der Moderne: Festplatten und Server.

Mehr zur Ausstellung „Kulturretter:innen“ erfahren. 

Vom 28. September bis 8. Dezember 2024 ist die Ausstellung in Hamburg im Kulturort Kampnagel zu Gast.

Autorin: Sophie Ziegler, Stiftung EVZ