Perspektiven auf die Restitution von NS-Raubkunst
Vor 25 Jahren, am 3. Dezember 1998, wurde die Washingtoner Erklärung verabschiedet. 44 Staaten verpflichteten sich, während der NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke zu identifizieren, deren Besitzer:innen oder Erb:innen ausfindig zu machen und eine „gerechte und faire Lösung“ zu finden. In den vergangenen 25 Jahren hat Deutschland Zehntausende geraubte Kulturgüter zurückgegeben.
Doch es gibt noch viel zu tun: Das Projekt „Recht ohne Recht“ der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) evaluiert die gegenwärtige Restitutionspraxis. Die Ergebnisse dieser Forschung werden nicht nur publizistisch aufbereitet, sondern auch in die reguläre universitäre Ausbildung eingebunden, um eine nachhaltige Sensibilisierung der Akteur:innen im Feld sicherzustellen. Doch wie empfinden die Nachkommen der Besitzer:innen von geraubten Kunstgütern die aktuellen Entwicklungen? In zwei Gesprächen spüren wir der Geschichte eines Fotos nach.
Prof. Dr. Benjamin Lahusen ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte und Leiter des Projekts „Recht ohne Recht“ an der Europa-Universität Viadrina. Von 2020 bis 2023 war er Geschäftsführer der „Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“.
Prof. Dr. Atina Grossmann lehrt Geschichte am Cooper Union College in New York City. Die Biografie ihrer Familie
ist bis heute stark durch die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung geprägt: Exil, Deportation, Ermordung, der Raub von Immobilien und Kunstgütern und die weiterhin aktuellen Fragen des Umgangs mit Restitutionsfragen. Ihr Vater war als Restitutionsanwalt tätig – sie hat hierzu als Historikerin umfangreich geforscht und publiziert.
Herr Lahusen, während einer Konferenz Ihres Projekts Ende 2023 an der Europa-Universität Viadrina gab es einen ganz besonderen Moment: ein Familienfoto von 1938, das Atina Grossmann, eine US-amerikanische Historikerin, im Kontext ihrer Präsentation gezeigt hat. Können Sie Ihre Stimmung von damals beschreiben?
Lahusen: Es war für mich ein sehr unvermittelter, eindrücklicher Moment, verbunden mit einer großen Traurigkeit über den Verlust, über den Abschied bei einem vermeintlich alltäglichen Beisammensein am Esstisch. Das nationalsozialistische Deutschland hat ein ganzes Zeitalter zerstört, das ist in einem unscheinbaren und doch so komplexen Bild festgehalten.
Frau Grossmann, im November 2023 nahmen Sie an einer Konferenz an der Viadrina teil. Dem Organisator Prof. Lahusen hat sich der Moment eingeprägt, als Sie dort ein Familienfoto zeigten. Was ist auf diesem Bild zu sehen?
Grossmann: Es ist das letzte Mal, dass meine Familie gemeinsam am heimischen Esstisch versammelt war. 1938, in der Fasanenstraße 2 in Berlin, im Jahr der Reichspogromnacht. Die dort abgebildeten Familienmitglieder mussten danach entweder flüchten oder wurden, wie meine Großmutter, in Auschwitz ermordet. Nicht, ohne vorher ihr Haus Astoria zwangsweise zu einem Preis weit unter Marktwert verkaufen zu müssen. Mein Vater Hans, damals schon als Anwalt in Teheran tätig, war eigens als juristische Unterstützung unter Einsatz seines Lebens nach Berlin zurückgekehrt, aber vergebens. Meiner Großmutter wird seit einigen Jahren vor Ort mit einem Stolperstein gedacht. Stolpersteine sind wunderbar, aber nicht ausreichend, nicht mehr als ein Anfang.
Was sollte das Ziel der Rückgabe von Kunstwerken sein?
Lahusen: Heute steht das Restitutionsgeschehen viel stärker im Fokus der Debatten als die Geschichten der Betroffenen. Ich würde mir wünschen, dass wir als Gesellschaft etwas mehr Großzügigkeit und Demut zeigen – also die Hand reichen, anstatt die agonale Erwartung vorwegzunehmen, da kämen welche von außen, die etwas wegnehmen wollen. Damit würden wir unserem historischen Anspruch gerecht werden.
Grossmann: Anstelle großer Zeremonien sollte vor Ort, an den vielen Orten der Verbrechen, sichtbar und detailliert über vergangenes Unrecht informiert werden, um die Verantwortung damit ehrlich anzuerkennen. Umfassende Transparenz und Sichtbarkeit sind die Grundlage einer wirklichen Erinnerungskultur. Dann kann sich jede:r selbst ein Bild machen, auch die heutigen Teilnehmenden an Konferenzen in dem Haus, welches einst meiner Familie gehörte.
Dies betrifft auch Kunst- und Kulturgüter, in unserem Fall ein Gemälde von Lovis Corinth, das jetzt im Besitz des Stadtmuseums Berlin ist. Die Beratende Kommission für NS-bedingt entzogenes Kulturgut hat sich dagegen ausgesprochen, dass das Museum das 1907 entstandene Porträt des Theaterkritikers Alfred Kerr von Lovis Corinth den Erben des jüdischen Vorbesitzers Robert
Graetz aushändigt. Graetz hatte das Gemälde von Leo Nachtlicht erworben, meinem Großonkel mütterlicherseits.
Aber ich, als Erbin von Nachtlicht, habe mich gegen einen weiteren Prozess entschieden.
Es gibt auch Möglichkeiten jenseits der physischen Rückgabe, auch hier gilt wieder: Die Werke müssen gezeigt und allgemein zugänglich ausführlich kontextualisiert werden. Ich wäre gerne bereit, mit dem Stadtmuseum Berlin einen exemplarischen Workshop durchzuführen.
Wie könnte ein erneuerter Prozess der Restitution von NS-Raubkunst gestaltet werden?
Lahusen: Was immer noch fehlt: die breite gesellschaftliche Sichtbarmachung und Diskussion der Thematik, wie sie andernorts etwa durch Wahrheitskommissionen erreicht wurde, die auch transgenerational wirken können.
In einem kleineren Maßstab könnten Pro-bono-Beratungen durch juristische Initiativen wie etwa eine Law Clinic Betroffene unterstützen. Oder man verstärkt Citizen-Science-Engagement auf allen gesellschaftlichen Ebenen – denn die Frage nach dem Umgang mit NS-Raubkunst ist keine rein juristische, zumal das Thema im Jurastudium überhaupt keine Rolle spielt. Hier müssen wir gesamtgesellschaftlich ins Gespräch kommen, uns ehrlich machen und neben der materiellen Entschädigung auch die Rückgabe von Kulturgut als Katharsis begreifen.
Erst das löst den Anspruch „Nie wieder“ ein. Je öffentlicher sich dieser Prozess vollzieht, desto besser. Unmittelbarkeit und konkrete Schicksale hinter den geraubten Kunstgütern sind der Schlüssel, eng eingebettet in die öffentliche globale Provenienzforschung.
Die Gespräche führte Regina Fuhrmann, Stiftung EVZ.
Im Abschlussbericht der „Beratenden Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturguts, insbesondere aus jüdischem Besitz“ heißt es: „In der Gesamtwürdigung“ erging die Einschätzung, das Werk sei nicht zu restituieren. Das Gemälde sei allerdings „auf bedrückende Weise“ mit vier Verfolgungsschicksalen verknüpft. „Die Familien von Alfred Kerr, Leo Nachtlicht, Robert Graetz und Gertrud Kahle waren sämtlich Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.“ Und: „Sie wurden unterdrückt, beraubt, deportiert, in die Flucht getrieben oder ermordet.“
Die Kommission empfahl dem Stadtmuseum Berlin, diese Provenienz beim künftigen Umgang mit dem Porträt „auf angemessene Art und Weise“ zu würdigen.