Ein Projekt der Brandenburgischen Gesellschaft für Kultur und Geschichte und der Filmuniversität Babelsberg KONRAD
WOLF initiiert den ersten Praxiseinsatz volumetrischer Zeitzeug:innen-Interviews in einer mobilen Ausstellung und tourte 2023 durch das Land Brandenburg. Angesichts der verblassenden NS-Zeitzeugenschaft lotet das Projekt Grenzen und Möglichkeiten der virtuellen Realität für die Geschichtsvermittlung und Erinnerungskultur aus.
Die Projektleitenden Johanna Schüller und Christian Zipfel berichten im Gespräch von der engen Zusammenarbeit mit Zeitzeug:innen, dem virtuellen Zusammentreffen von Jung und Alt auf der Tour und von den Potenzialen eines interdisziplinären Projekts für die Bildungsarbeit.
Frau Schüller, Sie begleiten das Projekt von Beginn an und waren bei der gesamten Tour in Brandenburg dabei. Welcher Moment ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Schüller: Bei 1.500 Schüler:innen und 350 Besucher:innen auf der gesamten Tour haben wir mit ganz vielen tollen Menschen intensive Gespräche geführt. Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen ein Mitteilungsbedürfnis hatten und uns etwas über ihre persönlichen Lebenswege erzählen wollten, auch Menschen, die aus der Nachkriegszeit und dem Leben und Erinnern in der DDR berichteten. Eine Begegnung ist mir besonders in Erinnerung geblieben: In Pritzwalk besuchte ein älteres Ehepaar die Ausstellung. Nachdem sie sich alles in Ruhe angeschaut hatten, nahm mich die Frau zur Seite, um mir von ihrer eigenen Familiengeschichte und dem Leben in der DDR zu erzählen. Ihre Eltern waren jüdischer Herkunft und überlebten den NS-Terror im Versteck. Sie war sichtlich ergriffen davon, jüdischen Zeitzeug:innen virtuell zu begegnen und dass deren Geschichte auch im ländlichen Raum – in ihrer Heimatstadt – gezeigt und mit Jugendlichen besprochen wurde.
Sie arbeiten bereits seit vielen Jahren mit Zeitzeug:innen und bemühen sich um die Bewahrung ihrer Geschichte. Volumetrische Videos, die über eine VR-Brille als ein Gespräch wahrgenommen werden, sind ein neuartiger digitaler Ansatz. Wie empfinden Zeitzeug:innen die Aufnahmen?
Zipfel: Am Anfang suchten wir nach Menschen, die überhaupt teilnehmen wollten. Eine der größten Herausforderungen dabei war, dass Zeitzeug:innen nicht zu den Digital Natives gehören. Wir Johanna Schüller Christian Zipfel mussten also zunächst erklären, was eine virtuelle Realität überhaupt ist. Wir sprachen über Grundlagen von Dreidimensionalität, über dreidimensionale Animationsfilme und näherten uns dem Ganzen so an. Die Zeitzeug:innen waren dieser Technik gegenüber sehr aufgeschlossen und reagierten neugierig. Niemand sagte ab und es bedurfte auch keiner Überzeugungsarbeit.
Diese Aufnahmesituation in einem volumetrischen Studio ist mit einem normalen Interview nicht zu vergleichen. Bei den Aufnahmen saßen die Zeitzeug:innen allein in einem großen, weißen Raum. Sie konnten mich hören, aber nicht sehen. Die Reaktionen darauf waren sehr unterschiedlich. Einige erzählten mir später, sie hätten sich wie in einem Raumschiff gefühlt. Kurt Hillmann sagte nach der Aufnahme „Es war, als hätte ich in die weiße Nacht gesprochen“. - und so ähnlich muss es sich auch anfühlen. Das Fehlen eines Gegenübers führte beispielsweise bei Herrn Hillmann dazu, dass er an manchen Stellen sehr emotional wurde.
Die Zeitzeugin Rachel Mann, die sich während der NS-Zeit in einem Keller verstecken musste, wiederum wollte auf keinen Fall allein in diesem Raum sein. Es ist das einzige Video, in dem ich mit im Raum sitze.
Und wie reagierten die Zeitzeug:innen auf das fertige Material?
Zipfel: Sehr unterschiedlich: Viele waren emotional mitgenommen und fanden es eindrucksvoll. Es ist so, als würden sie sich selbst gegenübersitzen. Leon Weintraub zum Beispiel hat ganz genau hingesehen und sprach über technische Imperfektionen. Ruth Winkelmann hat sich ihre Aufnahme angesehen und die Brille schnell wieder abgenommen. Es war schwer für sie, mit ihrer eigenen Geschichte neu konfrontiert zu werden. Es war nicht leicht für die Zeitzeug:innen, sich selbst zu betrachten.
Während der Tour besuchten Schulklassen die Ausstellung und einige begegneten zum ersten Mal Zeitzeug:innen: Wie liefen die Workshops ab und was nahmen die Jugendlichen mit?
Schüller: Von Beginn an arbeiten wir mit der Medienpädagogin Dr. Wenke Wegner zusammen, die bei der Entwicklung der VR-Experience und der Ausstellung immer auch die pädagogische Perspektive mitgedacht hat und auf Grundlage dessen die Workshops für die 9. – 12. Klasse konzipiert und durchgeführt hat. Ein Workshop dauerte 90 Minuten und wurde engmaschig vor Ort begleitet. Nach einer technischen Einweisung und einem Eindruck darüber, was an Wissen bereits vorhanden ist, durchliefen die Schüler:innen in einem Parcour die Ausstellung. Neben der VR-Experience können die Jugendlichen auch erfahren, was es bedeutet, persönliche Erlebnisse an andere weiterzugeben. Sie setzten sich mit den Biografien auseinander und lasen an der analogen Bücherstation über die Geschichte der Zeitzeug:innen. Uns war es wichtig, dass die Schüler:innen sich nicht nur intensiv mit der NS-Zeit auseinandersetzten, sondern auch mit dem technischen Format. Viele gaben uns zur VR-Experience das Feedback, dass es sich für sie so angefühlt habe, als wären sie alleine mit den Zeitzeug:innen in einem Raum gewesen.
Das Projekt ist komplex: Es gibt die Zeitzeug:innen mit ihrer Lebensgeschichte, die technische Umsetzung und die pädagogische Perspektive. Wie gelang die interdisziplinäre Zusammenarbeit?
Schüller: Vor allem lernen wir alle von- und miteinander. Für mich als Judaistin und Historikern war die technische Seite ganz neu. Der enge Austausch und die Kommunikation sind bei einem Kooperationsprojekt zentral.
Ich durfte ganz zu Beginn bei einer Videoaufnahme dabei sein. Wir stellten uns die Frage, was dieses Format für die Zukunft und das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus bedeutet.
Für mich galt es, alle Anknüpfungspunkte und Teamformate zu vernetzen. Der enge Kontakt zur Filmuniversität in der Entwicklungszeit war bereichernd. Es ist eine Partnerschaft und Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit einem hochqualifizierten Team.
Zipfel: Es ist eine riesengroße Lernerfahrung! Im künstlerischen Bereich ist es eigentlich so, dass man – selbst wenn die Werke politisch sind - erst einmal ein Werk um des Werkes Willen erstellt und dann erst findet es eine Zuschauerschaft. Bei einem Projekt wie unserem, das von vornherein eine bestimmte Zielgruppe erreichen sollte und didaktisch angelegt ist, ist die Herangehensweise gerade andersherum. Da ist es bereichernd zu sehen, welche Gedanken aus anderen Fachbereichen einfließen.
Sie evaluieren die Tour und die Projektergebnisse bis zum Sommer 2024. Geben Sie uns einen Einblick: Was war besonders herausfordernd und was ist besonders gelungen?
Schüller: Wir haben das Projekt aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln evaluiert: Während der Tour gab es Evaluationsfragebögen für erwachsene Besucher:innen, über die wir viele Rückmeldungen bekommen haben.
Nach der Tour startete ein dreistufiges Workshop-Evaluationsverfahren mit einer Schulklasse, Multiplikator:innen und mit Expert:innen der historischen Bildung. Besonders positiv wurde hervorgehoben, dass die Ausstellung als Einstieg in den Themenbereich Nationalsozialismus diene und dass der Zugang über die Technik sehr gut funktioniere und neugierig mache. Selbst Schüler:innen, die Geschichte nicht als eines ihrer Lieblingsfächer bezeichneten, konnten über den technischen und visuellen Zugang unmittelbar erreicht werden.
In der Zukunft möchten wir – und auch dies zeigt die Evaluation deutlich – das Format noch differenzierter ausarbeiten. Es gibt große Unterschiede zwischen Schüler:innen und jungen Menschen, die über Jugendclubs freiwillig an den Workshops teilnahmen. Die Gruppenkonstellationen und Zielgruppen wollen wir noch individueller ansprechen. Die hohe Nachfrage der Erwachsenen nach unserem Projekt hat gezeigt: Auch sie wünschen sich ein Bildungsformat. Außerdem ist es wichtig, den Bezug zum Heute und zu aktuellen Vertreibungs- und Fluchterfahrungen noch einmal zu stärken und sichtbarer zu machen.
Mehr über das Projekt erfahren.
Das Gespräch führten Jana Bültge und Emilie Buchheister.