Wir wagen einen Blick in die Zukunft: Wie sieht Bildung im Jahr 2050 aus? Wie lernen Schüler:innen in einigen Jahrzehnten etwas über das nationalsozialistische Unrecht und den Holocaust? Geht es nur noch um Games, Social Media und KI – oder werden klassische Vermittlungsmethoden bleiben?
2050 – für mich klingt das im ersten Moment nach weit entfernter Zukunft. Die Debatten und Fachdiskurse über das Lernen in der Kultur der Digitalität, veränderte Lehr-Lern-Settings und daran anschließende fachdidaktische Fragen nehmen gerade richtig Fahrt auf. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Lernkultur und das Lernen in 26 Jahren grundlegend verändert haben werden:
Das betrifft die Orte, an denen Lernen stattfindet, die Selbstverständlichkeit, mit der digitale Medien mit analogen verschränkt werden, und auch die Art, wie Lernprozesse gestaltet und Lernfortschritte anhand digital erfasster Daten abgebildet und nachgehalten werden.
Digitale Medien werden so selbstverständlich wie Stifte und Bücher zum Lernen gehören und das Label „digital“ wird überflüssig sein. In meiner Idealvorstellung werden Schulen und außerschulische Lernorte selbstverständlich mit WLAN und funktionierenden Geräten ausgestattet sein und allem voran wird all das nicht davon abhängen, wie finanzstark die jeweilige Kommune oder die Eltern sind. Bildungsgerechtigkeit wird im Jahr 2050 ein Wert sein, der hoffentlich stärker handlungsleitend sein wird, als es heute der Fall ist.
Serious Games und KI-unterstützte Lernsysteme werden schon heute in der Geschichtsvermittlung erprobt. Für das Geschichtslernen der Zukunft werden sie weiter professionalisiert und differenziert werden. Einige Beispiele zeigen bereits jetzt auf beeindruckende Weise, welche Möglichkeiten sich bieten, so etwa das Projekt „Dimensions in Testimony“. Die USC Shoah Foundation hat Interviews mit Überlebenden der Shoah aufbereitet, sodass Lernende Fragen zu deren Leben und Überleben stellen können und die Zeitzeug:innen mithilfe einer KI interaktiv berichten. Eine einzigartige Möglichkeit, auch viele Jahrzehnte nach der NS-Zeit bewegende und eindrückliche Berichte zu erleben und sie in Lernprozesse einzubinden. Darüber hinaus können KI-Anwendungen dazu beitragen, Quellen und Zeitdokumente einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, beispielsweise indem Lerninhalte in die Muttersprache der Lernenden oder in leichte beziehungsweise einfache Sprache übersetzt werden – und damit zu mehr Barrierefreiheit beitragen.
In der Kultur der Digitalität werden sich Lernprozesse stärker individualisieren. Am konkreten Beispiel des Geschichtslernens über die Zeit des Nationalsozialismus könnte das etwa bedeuten, dass sich die Lernprozesse einzelner oder kleinerer Lerngruppen explizit am Interesse der Lernenden orientieren. Möchte eine Lerngruppe mehr über das Leben und Überleben der jüdischen Bevölkerung in Dänemark lernen? Oder anhand der Biografie von Anne Frank erarbeiten, wie Menschen aus der Nachbarschaft das Leben von Jüdinnen:Juden im Versteck unterstützten? Möglicherweise möchten sie vor dem Hintergrund familienbiografischer Bezüge mehr darüber lernen, wie sich die NS-Herrschaft auf das Leben in anderen Staaten in Europa oder der Welt auswirkte. Schüler:innen übernehmen so mehr Verantwortung für ihre eigenen Lernprozesse, die Vielzahl möglicher Recherchefragen schafft unweigerlich eine Multiperspektivität im Lernprozess. Digitale Unterstützungssysteme verstärken diese Entwicklung zu individualisiertem Lernen zusätzlich, indem Quellen und Dokumente digital zur Verfügung stehen und beispielsweise Open Educational Resources (OER) die Anzahl der verfügbaren Lehr-Lern-Materialien um ein Vielfaches multiplizieren.
Dass ein warnendes Ausrufezeichen am Bildschirm erscheint, wenn beispielsweise ein historisches Dokument in einen falschen oder problematischen Kontext gestellt wird. Etwa, wenn ein Foto als Beleg für ein Ereignis herangezogen wird, obwohl es aus einem anderen geografischen oder historischen Kontext stammt. Und dass im nächsten Schritt eine KI beziehungsweise zusätzlich eine Lehrkraft darin unterstützt, zu rekonstruieren, welche Interessen und Absichten hinter der etwaigen Entkontextualisierung eines historischen Dokuments stehen könnten.
Apropos Lehrkraft: Lehrkräfte beziehungsweise pädagogisches Personal in außerschulischen Lernsettings werden mit Sicherheit auch im Jahr 2050 die alles entscheidende Variable für gelingende Prozesse im Lernen über Geschichte und NS-Unrecht sein. Ja, in Zukunft werden potenziell weit mehr Lehr-Lern-Materialien und digitale Instrumente als heute zur Verfügung stehen. Doch auch dann wird Lernen weiterhin eine soziale Praxis sein, die im Dialog und in Beziehung stattfindet. Daher braucht es umso mehr gut qualifizierte Lehrkräfte, die Schüler:innen in ihren Lernprozessen begleiten, sie dazu motivieren, tiefer in Recherchen und Erkundungen vorzudringen, und darin unterstützen, Fragestellungen zu schärfen und den eigenen Lernprozess zu reflektieren. Im Lernen über das NS-Regime und seine Auswirkungen wird die Rolle der Lehrkräfte auch in der Zukunft entscheidend darin bestehen, Schüler:innen bei ethischen Fragen von Recht und Unrecht zu begleiten und Bezüge zur eigenen Gegenwart, gesellschaftlichen Teilhabe und Verantwortung für ein an Menschenrechten orientiertes Gemeinwesen zu erarbeiten.
All dies ist auf so vielen Ebenen höchst anspruchsvoll und setzt qualifizierte Lehrkräfte voraus, die sowohl fachlich als auch didaktisch dazu in der Lage sind, gelingende Lernsettings zu schaffen. Höchste Zeit also, sowohl das Lehramtsstudium als auch die Fortbildungen für Lehrkräfte und pädagogische Fachkräfte entsprechend anzupassen. Denn so gesehen sind 26 Jahre schneller rum, als man meinen könnte.
Autorin: Bianca Ely, Leiterin des Handlungsfelds „Konzepte und Qualifizierung“ im Forum Bildung Digitalisierung
Das Forum Bildung Digitalisierung setzt sich für systemische Veränderungen und eine nachhaltige digitale Transformation im Bildungsbereich ein.
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