Der Wandteppich von Argentina Calin

Wo beginnt sie, die Suche nach dem Vergessenen? Für die Mitarbeitenden des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma sind es viele einzelne Gespräche, die sie manchmal per Zufall, manchmal durch Beharrlichkeit zu ihrem Ziel führen: persönliche Gegenstände von Rom:nja und Sinti:ze für die Sammlung „Das vergessene Gedächtnis“ zu finden. Am Rande von Gedenkfeierlichkeiten 2023 in Oświęcim sprach Projektleiterin Vera Tönsfeldt mit Mihai Oencea. Er berichtete ihr vom Leben seiner 1948 in Südrumänien geborenen Großmutter, Argentina Calin.

Die Kinderjahre der Romni waren geprägt von Armut, ihr frühes Erwachsenenleben von den Repressionen einer minderheitenfeindlichen, autoritär-kommunistischen Regierung. Früh hat sie in der Gemeinschaft der Romani-Frauen das Sticken gelernt – mit den Tüchern dekorierten sie die Räume im Haus. Tradition, Stickkunst und Gemeinschaft brachten Calin Abwechslung vom Alltag – und der Sammlung des Bildungsagenda-Projekts einen handbestickten Wandteppich. Das Textil, mit Pfau, Blumen und der Inschrift „Pfau des Waldes, sage mir, wen ich vermisse“ von Argentina Calin bestickt, gehörte zu ihren Lieblingsstücken und hing viele Jahre neben ihrem heimischen Ofen. Dennoch hat sie den Teppich dem Sammlungsteam in Heidelberg überlassen und mit ihm ihre Erinnerungen an das Leben einer Romni in Rumänien. Dank ihrer Geschichte erschließen sich neue Wege zum – auch aufgrund unzugänglicher Archive – bisher wenig bekannten Leben von Rom:nja im kommunistischen Rumänien. Und neue Wege zu einer Minderheit, die sich unter harten Lebensumständen dank Handwerkskunst und Zusammenhalt behaupten konnte.

Im Projekt „Das vergessene Gedächtnis: Aufbau einer Sammlung für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma“ entstehen eine museale Sammlung und ein Archiv, die den Genozid an den Sinti:ze und Rom:nja und ihre Verfolgungsgeschichte dokumentieren. 
Zum Weiterlesen: www.sammlung.sintiundroma.de

Das Kaleidoskop der Zwangsarbeiter:innen von Kampnagel

Mehr als 20.000 Lager für zivile Zwangsarbeiter:innen haben die Nationalsozialisten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches errichtet. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass da, wo wir heute wohnen, Fußball spielen oder Kunst betrachten, vor mehr als 80 Jahren Menschen unter oft unmenschlichen Bedingungen gearbeitet und gelitten haben. Im hamburgischen Winterhude befindet sich ein solcher überformter Ort. Kampnagel ist heute den meisten als Zentrum für zeitgenössische, experimentelle Kunst ein Begriff – die wenigsten assoziieren mit dem Namen die Kampnagel AG, die mithilfe von schätzungsweise 1.000 Zwangsarbeitenden Rüstungsgüter für die Nazis herstellte. Hervorgegangen aus dem Eisenwerk und Kranhersteller Nagel & Kaemp gehörte das Unternehmen ab 1939 zur kriegswichtigen Industrie. Die zur Produktion zwangsrekrutierten Menschen aus der Ukraine, Belgien oder Frankreich wurden in sechs betriebseigenen Lagern untergebracht. Ihre Namen und Biografien waren ebenso vergessen wie die Geschichte des Geländes selbst.

Die Kunstinstitution Kampnagel hat sich im Projekt „Zwangsarbeit und Widerstand“ aktiv mit den Untiefen der Unternehmensgeschichte während des Nationalsozialismus auseinandergesetzt. In öffentlichen Jours fixes nimmt sie die Stadtgesellschaft mit auf ihre Recherchereise und erzählt die Geschichten jener Menschen, deren Leben sie rekonstruiert – auch anhand eines Kaleidoskops: „Kluge Köpfe erdachten es. Gefangene Hände machten es. Es ist aus Spiegeln und aus Glas. Kaleidoskop, so nennt sich das.“ In mehreren Quellen finden sich Hinweise auf Kaleidoskope, darunter auch im Bericht eines Zwangsarbeiters selbst: Der Belarusse Vitkovskij Vasilij Aleksevic berichtet in einer Postkarte an die Kampnagel-Fabriken davon, wie er nach seinen Schichten heimlich Spielzeug wie dieses Kaleidoskop fertigte, um es gegen Brot einzutauschen. Nun dient das „Kaleidoskop“ als dramaturgische Metapher in der digitalen Umsetzung der Rechercheergebnisse in einer Augmented-Reality-Anwendung.

Im Projekt „Zwangsarbeit und Widerstand: AR-Anwendung zur Aufarbeitung der Geländegeschichte“ von Kampnagel, einem internationalen Zentrum für schöne Künste, werden Biografien von Zwangsarbeiter:innen und Fakten des Widerstands digital in einer AR-App für das Gelände in Hamburg aufbereitet. 
Zum Weiterlesen: kampnagel.de/kaleidoskop-app

Das Buch von Avraham ben Avigdor aus dem Jahr 1837

Der Kurs zu historischem und zeitgenössischem Antisemitismus von Prof. David Myers an der University of California (UCLA) endete für die Studierenden mit einer praktischen Übung.
Ihre Aufgabe war, in der eigenen Universitätsbibliothek nach von den Nazis geraubten Büchern zu suchen. Der Termin war Teil der Aktionstage der Leo Baeck Institute, bei denen Schüler:innen und Studierende mit Bibliotheken zusammengebracht wurden, um nach verschollenen Werken zu suchen. Unter der Anleitung von Dr. Diane Mizrachi, Bibliothekarin für Social Science, Jewish and Israel Studies, wurden die jungen Menschen fündig.
Das 1837 von Avraham ben Avigdor mit dem Titel „Zekhor le-Avraham: sheʼelot u-teshuvot … ̣ve-shiṭah ʻal ̣ketsat masekhtot meha-Shas ̣ve-ḥidushim ʻal ha-Rambam …“ verfasste Werk gelangte nach 1872 in den Besitz der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums.

Avraham ben Avigdor war Rabbiner und Av Beth Din in Istanbul, Vorsitzender eines Rabbinatsgerichts. Das Buch gehört in das Genre der Responsa, eine eigenständige Kategorie der jüdischen religiösen Literatur, und berichtet in Frage-und Antwort-Struktur von praktischen Angelegenheiten wie der Bestimmung jener Tätigkeiten, die am Sabbat erlaubt sind oder nicht.

In Berlin verblieb das Buch 70 Jahre, bis die Hochschule von den Nationalsozialisten geschlossen und die Bibliothek vom Reichssicherheitshauptamt geplündert und beschlagnahmt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wechselte das Buch mehrfach die Besitzer:innen – und Kontinente: Nachdem es bei Kriegsende von den Alliierten geborgen worden war, ist es zuerst als Teil einer Sammlung nach Jerusalem gelangt. Später interessierte sich die UCLA für das Buch und erwarb es schließlich nach langen Verhandlungen aus Israel.

Heute steht das Buch weiterhin in der Bibliothek der UCLA in Los Angeles und wird dort verbleiben. Denn das Ziel des Projekts ist es, die Bücher vor allem virtuell wiederzuvereinigen. Die Macher:innen des Projekts betonen außerdem: „Es hat gute Gründe, dass die Bücher heute dort sind, wo sie sind – das ist Teil ihrer Geschichte.“

Im Projekt „Have You Seen This Book?“ der Freunde und Förderer des Leo Baeck Instituts e. V. werden Bücher der von den Nationalsozialisten zerstörten Bibliothek der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums mittels einer internationalen Kampagne gesucht.
Zum Weiterlesen: libraryoflostbooks.com

Autorin: Katrin Kowark