Wenn Kurt Weill im Heute leben würde, welcher Musik wäre er wohl zugetan? Dem Hip-Hop, glauben die Künstler:innen des Musiktheaterstücks „over and over vorbei nicht vorbei“ an der Komischen Oper Berlin. „Denn diese Ästhetik, etwas neu zu kombinieren, weist viele Ähnlichkeiten mit seiner eigenen auf.“ Nicht nur musikalisch ist das Stück eine Hommage an den in Dessau in eine jüdische Familie hineingeborenen Weill, mit dem wir heute vor allem die Dreigroschenoper verbinden. „over and over vorbei nicht vorbei“ verarbeitet und dekonstruiert ideologisch motivierte Lieder aus Zeiten, in denen Weill lebte (1900–1950) und komponierte: Machtübernahme und Massenverbrechen der Nationalsozialisten in Europa zum einen und Auseinandersetzung mit Sklaverei und Rassismus im Amerika der 1940er-Jahre zum anderen. Kurt Weill wurde von den Nazis verunglimpft: „Der Name dieses Komponisten ist untrennbar mit der schlimmsten Zersetzung unserer Kunst verbunden“, schrieb das „Lexikon der Juden in der Musik“ 1941. Berufsverbot und Verfolgung ist Kurt Weill zuvorgekommen und übersiedelte 1933 zunächst nach Frankreich, 1935 nach Amerika. Das war auch der Grund, weshalb er selbst sich nicht als klassischen Emigranten sah: „Also, bevor Hitler und die Nazis daran dachten, mich zu erneuern, bin ich selbst auf den Gedanken gekommen.“
Im Projekt „over and over vorbei nicht vorbei: ein partizipatives Musiktheaterprojekt zum musikalischen Erbe des jüdischen Komponisten Kurt Weill“ begeben sich Sänger:innen, Kammerorchester und Jugend-Chor auf eine Reise durch die deutsche und US-amerikanische kollektive Erinnerung. Ein Projekt von Komische Oper Berlin in Kooperation mit Arolsen Archives.
Zum Weiterlesen: Im Gespräch Hip-Hop meets Kurt Weill erzählen Ted Hearne (Musikalische Leitung) und Daniel Fish (Regie) über ihre Erfahrungen mit Erinnerungskulturen, warum Liedtexte für den genauen Blick von der Musik befreit werden müssen und welche Rolle der Blick zurück für ein “Nie wieder ist jetzt” spielen kann.
„Mein Vater wurde 1938, sofort nach der Reichspogromnacht, verhaftet und nach Polen deportiert. Er durfte 10 Mark mitnehmen und einen kleinen Aktenkoffer.“ Das berichtete Rosa Rosenstein im Jahr 2002, damals 94 Jahre alt, im Gespräch mit Centropa. Der Verein hat zwischen 2000 und 2010 mehr als 1.200 jüdische Holocaust-Überlebende in 15 Ländern in Mittel- und Osteuropa mit dem Ziel befragt, ihre Lebensgeschichten in einem Interviewarchiv zu bewahren. Einige der Biografien jüdischer Menschen sind Grundlage des Projekts „MemoryLanes“, in dem junge Menschen ihren Geschichten nachspüren und daraus künstlerische Interventionen gestalten.
Rosa Rosensteins Lebensspuren begannen im östlichen Europa, ihre Großeltern und Eltern sind in Galizien, einer historischen Region im Süden Polens und Westen der heutigen Ukraine, geboren. Sie selbst kam 1907 in Berlin zur Welt. Nach der Schreckenserfahrung der Deportation des Vaters 1938 – Rosa war damals 30 Jahre alt, Mutter zweier kleiner Töchter und Teil der jüdischen Gemeinde – beschlossen sie und ihr Mann, nach Budapest zu fliehen. Der Rest der Familie entschied sich für die Flucht ins britische Mandatsgebiet Palästina. Als Jüdinnen:Juden auch in Ungarn nicht mehr sicher waren, schickten die Rosensteins ihre Töchter zur Familie nach Palästina. Rosa konnte sich verstecken, ihr Mann Michael starb an den Folgen von Zwangsarbeit in der Sowjetunion. Nach dem Krieg zog Rosa mit ihrem zweiten Mann nach Wien und starb dort im Jahr 2005. Ihr Berliner Haus hat sie nie wiedergesehen: „Später war ich mit meiner Enkeltochter in Ostberlin. Ich bin nicht dahingegangen, wo wir gewohnt haben, ich konnte das nicht.“
Im Projekt „MemoryLanes: Erinnerungswege an jüdisches Leben“ recherchieren Jugendliche Geschichten von jüdischen Menschen in Deutschland, Polen und Serbien – angeleitet von Künstler:innen setzen sich die jungen Menschen grenzüberschreitend mit der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa auseinander. Ein Projekt von Centropa.
Verbände von Überlebenden aus Arbeits- und Vernichtungslagern oder Haftanstalten waren meist schon unmittelbar nach Kriegsende Akteure von Aufarbeitung und Erinnerung. Ihre Mitglieder hatten die Untaten der Nationalsozialisten am eigenen Leib erfahren und engagierten sich für den Erhalt der Tatorte als Gedenkorte, für individuelle Entschädigungszahlungen, die Anerkennung von Opfergruppen, vernetzten und halfen sich gegenseitig. André Charon, Mitbegründer des belgischen Überlebendenverbands der politischen Gefangenen in Wolfenbüttel, war einer von ihnen. Der in Liège geborene Medizinstudent war im belgischen Widerstand aktiv – bis er 1942 von der Gestapo verhaftet wurde. Beim Verhör wurde er misshandelt und schwer am Auge verletzt. Als Mitglied in einer verbotenen Organisation und weil er Flugblätter verteilt hatte, wurde er von einem Feldkriegsgericht zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Nach der Befreiung durch die Alliierten blieb André Charon zunächst freiwillig in Wolfenbüttel, um dort Schwerkranke zu versorgen. Zurück in Belgien setzte er sich als medizinischer Gutachter für Kriegsopfer ein und gründete 1948 den Überlebendenverband mit. Das Symbol des Verbands ist eine Guillotine – 526 Menschen wurden von Oktober 1937 bis März 1945 von der NS-Justiz zum Tode verurteilt und mit der Guillotine oder dem Strang im Strafgefängnis Wolfenbüttel hingerichtet.
Auch dem Sohn André Charons, der den gleichen Namen trägt, ist die Erinnerung an die Opfergruppe der inhaftierten und hingerichteten Justizverurteilten ein Anliegen. Er überließ der Gedenkstätte die Sammlung seines Vaters. Darunter war ein Rucksack, den dieser aus der Gefangenschaft mit nach Hause gebracht hatte: „Und dieser Rucksack, der nicht besonders groß wirkt, war für mich als kleiner Junge, der auch nicht besonders groß war, natürlich riesig. Aber er war noch riesiger als sein Inhalt oder seine materielle Größe. Er war riesig wegen der ganzen Last, nicht nur der emotionalen, sondern, ich würde fast sagen, der zivilisatorischen Last.“
Im Projekt „Ewige Zuchthäusler?! – Entschädigung für Justizverurteilte und die individuellen sowie gesellschaftlichen Auswirkungen“ der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel steht eine bisher kaum berücksichtigte Verfolgtengruppe im Mittelpunkt: die von den Nationalsozialisten inhaftierten und hingerichteten Justizverurteilten.
Autorin: Katrin Kowark, Stiftung EVZ