Martín Valdés-Stauber, Münchner Kammerspiele

Was ist das Besondere am Projekt „Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart“– vor allem in Bezug die Verschränkung historischer Forschung mit künstlerischer Arbeit?

Ausgangspunkt unserer Arbeit ist die Frage: Wie muss sich unsere Erinnerungstradition verändern angesichts der radikalen Vielfalt unserer Gesellschaft?

Deshalb verstehen wir Erinnerungsarbeit als gegenwärtig, als Arbeit an unserer Offenen Gesellschaft. Unser Projekt verschränkt geschichtswissenschaftliche Unterfangen, wie etwa die Bemühung einer Archäologie der Gegenwart oder der Versuch, Vernetzungsgeschichte zu betreiben, mit künstlerischen Strategien. Deshalb spielt auch die Reflexion von Geschichtsschreibung und -erzählung eine große Rolle. Dabei bemüht sich unser „künstlerisches Forschungsfeld“ um eine kaleidoskopische Perspektivierung der Vergangenheit, um unser Geschichtsverständnis, und somit auch das Verständnis unserer Gegenwart, anzureichern.

Erinnerungsarbeit wird dann zur „Arbeit an der Gegenwart“, die sich bemüht, durch ein gemeinsames Verständnis der Vergangenheit, in der Gegenwart zueinander zu finden. Künstlerische Zugänge ermöglichen dabei gemeinsame Erlebnisse, die Ausgangspunkt zur gegenseitigen Verständigung sein können.

Wie hat sich die Selbstwahrnehmung der Münchner Kammerspiele verändert, seit die Schicksale von im Nationalsozialismus verfolgten Mitarbeiter:innen erforscht werden?

Seit 2018 erforscht das Ehepaar Janne und Klaus Weinzierl mit mir die SCHICKSALE von Personen, die an den Münchner Kammerspielen gewirkt haben und ab 1933 verfolgt, entrechtet und ermordet worden sind.

Mittlerweile kennen wir ein Tableau von weit über 200 SCHICKSALEN. Gegenwärtig veröffentlichen wir zu dieser Forschung eine wöchentliche Podcast-Serie und arbeiten an einer Website, die unsere Recherchen online zugänglich und dabei unseren wühlenden Rechercheprozess erfahrbar macht. Zudem weihen wir am 7. April ein Erinnerungszeichen am Eingang unseres Schauspielhauses ein. Ein Plakat, das an 28 Personen erinnert, die an den Kammerspielen gewirkt haben und ab 1933 ermordet wurden oder die Flucht in den Tod wählten.

Durch solche Eingriffe in die Architektur des Hauses ändert sich die Selbstwahrnehmung der Münchner Kammerspiele, dazu zählt etwa auch die Umbenennung der Kammer 2 in Therese-Giehse-Halle.

Für mich selbst haben sich insbesondere zwei Verschiebungen in der Selbstwahrnehmung der Kammerspiele ergeben: Einerseits habe ich verstanden, wie stark unser Haus in seiner Anfangszeit (1911 bis 1933) nach Osten orientiert war, was wir bei der Gründung der SISTERHOOD mit ukrainischen Künstler: innen in den letzten Jahren bewusst betont haben. Anderseits ist mir klargeworden, dass die ästhetische Tradition der Kammerspiele sich aus verschiedenen Quellen speist. Mir erscheint es sehr wichtig, die Differenzen im Detail zu verstehen, um sich klar abgrenzen und zugleich bekennen zu können! 

Für mich sind die Arbeitsweisen der Gründungszeit maßgebend: Experiment, Internationalisierung und lustvolle Zeitzeugenschaft.

Die Münchner Kammerspiele haben eine „SISTERHOOD“ mit ukrainischen Künstler:innen: wie ist die Lage der Kolleg:innen und wie können sie unterstützt werden?

Unsere Kolleg:innen haben jeweils sehr unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Die engsten Kolleg:innen haben rechtzeitig Mariupol verlassen können und dennoch bin ich sehr besorgt um all jene Mitstreiter:innen, die ich bei der Gründung der SISTERHOOD im Juni 2021 in Mariupol habe kennen lernen dürfen.

Einige Künstler:innen haben sich der Verteidigung Kyivs angeschlossen, andere sind in der Westukraine und engagieren sich dort. Wieder andere sind nach München, Wien oder Berlin gekommen, um im Verbund mit uns und anderen Theatereinrichtungen Solidaritätsveranstaltungen zu organisieren und überhaupt ihre künstlerische Arbeit fortzuführen. Die Arbeit der SISTERHOOD stand von Anfang an unter zwei Überschriften: Entfernte Nachbar:innen und Theater als Zeugenschaft. Unsere Nachbarschaft zur Ukraine ist nun offensichtlich ebenso wie der Auftrag der Kunst, Arbeit an der Gegenwart zu betreiben. Ein Blick auf Putins Kampf um Vergangenheitserzählungen, wie durch die Zwangsschließung von Memorial, zeigt, warum wir an den Kammerspielen Erinnerungsarbeit als Arbeit an der Offenen Gesellschaft begreifen.

Wir versuchen zu unterstützen, indem wir als Theater Erstaufnahme leisten, gemeinsame Projekte anstoßen, damit die Kolleginnen in Deutschland ihre Arbeit fortsetzen können, und veranstalten Solidaritätsveranstaltungen, die auch dazu dienen, ukrainische Perspektiven sichtbar zu machen als Teil unserer europäischen, demokratischen Zivilgesellschaft.