Dr. Wulf Kansteiner, Professor an der Fakultät für Geschichte und Altertumswissenschaften der Universität Aarhus, Dänemark

Die fünfte MEMO-Studie fragt gezielt auch nach einer europäischen Dimension der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg. Der Großteil der Befragten identifiziert sich nach eigenen Angaben mit Europa. Spiegelt sich das auch in den Erinnerungsräumen bzw. -grenzen wider? 

Die Umfrage macht deutlich, dass sich die nach wie vor existierende Erinnerungsgrenze zwischen Ost- und Westeuropa augenscheinlich nach Osten verlagert hat. Die Menschen, die in Deutschland wohnen, scheinen sich der Leiden der polnischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg bewusst zu sein und besuchen wichtige Erinnerungsorte an die nationalsozialistischen Verbrechen, die sich in Polen befinden, wie z.B. Auschwitz-Birkenau. Aber Gleiches gilt nicht für Russland bzw. die Sowjetunion. Das ungeheure Leiden der Bevölkerung in der damaligen Sowjetunion und die systematische Ermordung von Millionen von sowjetischen Soldaten durch die Wehrmacht bleibt offensichtlich eine Leerstelle in der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland. Die Erinnerung passt sich also an die neuen politischen Grenzen zwischen NATO und Russland an und trägt zu einer gewissen Sprachlosigkeit zwischen einer offiziell selbstkritisch angelegten Erinnerung in EU-Europa und einer traditionell heroisch angelegten Erinnerung in Russland bei.

In MEMO IV/2021 nannte nur rund die Hälfte der Befragten Sinti:ze und Rom:nja als Betroffene der NS-Verfolgung. In MEMO V/2022 wurde auf diese Gruppen ausführlicher eingegangen. Zu welchen Ergebnissen kommt die aktuelle Erhebung?

Der in der fünften MEMO-Studie enthaltene Schwerpunkt zur Erinnerung an die Verbrechen an den Sinti:ze und Rom:nja wirft wichtige Fragen bezüglich der Qualität der in Deutschland vertretenen Erinnerungsdiskurse auf, die in einer repräsentativen Umfrage nicht abschließend beantwortet werden können. Die so wichtige und verständliche Fokussierung auf die Erinnerung an die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Täter hat andere Opfergruppen nicht in den Vordergrund treten lassen und eventuell sogar unbeabsichtigt zur Tradierung traditioneller Vorurteile beigetragen. Eine selbstkritische Erinnerung an Zwangsarbeiter:nnen, Sinti:ze und Rom:nja ist z.B. deutlich ausbaufähig und wahrscheinlich gut geeignet, die prinzipielle Wertschätzung von sozialer, kultureller und ethnischer Vielfalt in einer Postmigrationsgesellschaft auszubauen.

Vor welchen Herausforderungen stehen Studien wie MEMO – und wo liegen ihre Potenziale?

Wie viele ähnlich angelegte Studien läuft die MEMO-Studie Gefahr, die von den Interviewpartnern in Schule und anderen Einrichtungen erlernten offiziellen Fakten, Werte und Erinnerungsdiskurse der deutschen Gesellschaft abzufragen, ohne dass die so generierten Antworten darüber Auskunft geben können, welche Lehren und Leidenschaften die Befragten tatsächlich mit diesen erlernten Inhalten verbinden. Auch deshalb ist es so wichtig, gerade jüngeren Menschen die Möglichkeit einzuräumen, ihren Erinnerungshorizont induktiv schildern zu können, ohne dass sie sich schon zu Beginn der Umfrage mit einer stark moralisch aufgeladenen Erwartungshaltung konfrontiert sehen. Nur so besteht die Chance, feststellen zu können, ob und inwieweit die Erinnerung an Weltkrieg, Holocaust und Nationalsozialismus in der Alltagskultur an Relevanz verliert und vielleicht neuere Ereignisse der Zeitgeschichte herangezogen werden, um aktuelle Krisen zu interpretieren und zu bewältigen. Durch die Fokussierung auf geschichtliche Erinnerungsorte wird insbesondere die so wichtige Frage ausgeblendet, in welchem Maße die präfigurative, vorauseilende Erinnerung an eine noch lange nicht in vollem Umfang eingetretene Klimakatastrophe das Zeitverständnis und die politischen Leidenschaften jüngerer Generationen beherrschen. Es wäre sehr wichtig herauszufinden, inwieweit gerade jüngere Generationen Geschichte und Erinnerung in dieser Weise auf den Kopf stellen.